Die Auserwählten
Mythos geht es darum, dass die Menschheit durch diese sechsunddreißig Gerechten am Leben erhalten wird.«
»Sechsunddreißig? Und warum sechsunddreißig?«
»Jüdische Buchstaben haben einen Zahlenwert. Die Buchstaben im Wort ›Leben‹ ergeben die Zahl achtzehn. Deshalb ist die Achtzehn eine heilige Zahl.«
»Achtzehn plus achtzehn ergibt sechsunddreißig. Dann ist diese Zahl sicher doppelt so heilig?«
»Für einen Mann ohne Bezug zur Religion sind Sie richtig gut.«
Niels lächelte und verspürte einen fast kindlichen Stolz.
»Wie hat man das herausgefunden?«
»Wie meinen Sie das?«
»Dass Gott diese sechsunddreißig auf die Erde geschickt hat?« Niels unterdrückte ein ungläubiges Lächeln, aber Rosenberg sah es in seinen Augen.
»Er hat es Moses erzählt.«
Niels warf einen Blick auf die barocken Gemälde. Engel und Dämonen. Tote, die aus ihren Gräbern krochen. Der Sohn, an ein Holzkreuz genagelt. Niels hatte in seinen zwanzig Jahren als Polizist schon viel gesehen. Viel zu viel. Er hatte Kopenhagen auf der Suche nach Motiven und Beweisen einmal komplett umgegraben, war in jede noch so dunkle Ecke der menschlichen Seele gekrochen und hatte Dinge gefunden, die ihm noch heute bei dem bloßen Gedanken daran übel werden ließen. Trotzdem hatte er nicht einmal den Ansatz eines Beweises dafür gefunden, dass es ein Leben nach dem Tod gab.
»Sinai. Moses ging auf den Berg und empfing die Gebote. Wir leben noch heute danach. Und zwar in einem solchen Grad, dass sogar unsere Gesetze darauf basieren. Du darfst nicht töten.«
»Das hat nur selten jemanden davon abgehalten.«
Rosenberg zuckte mit den Schultern und fuhr fort:
»Du sollst deinen Nächsten lieben. Du sollst nicht stehlen. Sie kennen ja die Zehn Gebote.«
»Ja, danke.«
»Im Grunde ist es Ihr Job, dafür zu sorgen, dass Gottes Zehn Gebote eingehalten werden. Vielleicht sind Sie also ein weitaus wichtigerer Bestandteil des großen Plans, als Sie sich bewusst sind.« Rosenberg lächelte Niels spitzbübisch an, und auch Niels musste schmunzeln. Rosenberg war gut. Und erfahren. Viele Jahre Training in der Auseinandersetzung mit Nicht-Gläubigen.
»Ja, vielleicht«, antwortete Niels und fuhr fort. »Und was hat Gott Moses gesagt?«
»Dass er in jeder Generation sechsunddreißig Gerechte bestimmt hat, gute Menschen, die auf die Menschheit aufpassen.«
»Die herumlaufen und missionieren sollen, oder was?«
»Nein, denn dass sie zu den Auserwählten gehören, wissen diese Leute nicht einmal selbst.«
»Also, die Guten wissen gar nicht, dass sie gut sind?«
»Die Guten wissen nicht, dass sie gut sind. Nur Gott kennt ihre Identität. Sie wachen aber trotzdem über uns.« Er machte eine Pause. »Wie gesagt, im Judentum ist das eine wichtige Sache. Wenn Sie mit einem Experten sprechen wollen, müssen Sie in die Synagoge in der Krystalgade gehen.«
Niels sah auf seine Uhr und dachte an Kathrine, seine Pillen und den Flug am nächsten Tag.
»Ist das so unvorstellbar?«, fuhr der Pastor fort. »Die meisten anerkennen schließlich, dass es das Böse in der Welt gibt. Böse Menschen. Hitler. Stalin. Warum soll nicht auch das Gegenteil existieren? Sechsunddreißig Menschen, die auf Gottes Waage ein Gegengewicht zu all dem Übel bilden. Wie viele Tropfen Güte braucht es, um die Bosheit in Schach zu halten? Vielleicht sechsunddreißig?«
Stille senkte sich über sie. Rosenberg nahm Niels die Gesangbücher ab und stellte sie auf das Regal am Ausgang. Niels reichte Rosenberg die Hand. Er war der Erste auf seiner Liste, dem er wirklich die Hand geben wollte. Lag das an der Umgebung?
»Wie gesagt: Ich denke, es ist nicht mehr als ganz normale Vorsicht vonnöten.«
Rosenberg öffnete Niels die Tür. Draußen strömten Passanten, gab es Weihnachtsmusik, Glockenklang, Autos, Lärm, eine wütende, chaotische Welt. Niels sah ihm in die Augen und fragte sich, was für eine Lüge ihm der Pastor unten im Keller aufgetischt hatte.
»In seiner Grabrede für Gerald Ford bezeichnete Kissinger den verstorbenen Präsidenten als einen der sechsunddreißig Gerechten. Auch Oskar Schindlers Name wurde in diesem Zusammenhang genannt. Oder wie wäre es mit Gandhi? Oder Churchill?«
»Churchill? Kann man Menschen in den Krieg schicken und trotzdem gut sein?«
Rosenberg dachte einen Augenblick nach.
»Es kann durchaus Situationen geben, in denen es richtig ist, das Falsche zu tun. Aber dann ist man nicht mehr gut. Davon handelt das Christentum ja eigentlich: Wir
Weitere Kostenlose Bücher