Die Auserwählten
viel gesehen und gehört, und sie wusste, dass man nicht alles als Unsinn abtun durfte.
In ihrem früheren Leben – in ihren Augen stellte es sich oft so dar – hatte Schwester Magdalena als Prostituierte gearbeitet. Aber Gott hatte sie gerettet. Dafür hatte sie sogar Beweise: Die Quittung für ein Fahrrad, das sie zur Reparatur gegeben hatte.
In Manila hatte sie einen festen Kunden gehabt. Einen früheren amerikanischen Piloten, der sich auf den Philippinen niedergelassen hatte und seine Pension für Alkohol und Mädchen ausgab. Er war im Vietnamkrieg gewesen und hatte Narben am Bauch und an den Beinen und sicher auch auf der Seele. Obwohl er im Sterben lag, fehlte seinem Leiden jede Würde, denn er bekam seine Gelüste nie in den Griff. Magdalena hatte damals noch einen anderen Namen. Sie musste jeden Tag vorbeikommen und ihm einen blasen. Er bezahlte sie natürlich, aber je weiter sich der Krebs in seinen Körper hineinfraß, desto länger dauerte es, bis er endlich kam.
Der alte Pilot hatte irgendwann einmal eine Bar gehabt, was vermutlich auch nur ein Alibi für seine Alkoholsucht gewesen war. Dort hatte Magdalena ihn getroffen, bevor er krank wurde und auf seinen einsamen Tod zu warten begann.
Dann geschah das, was ihr Leben verändert hatte. Bei ihrem letzten Besuch hatte er im Fieberwahn geredet und Magdalenas Hand genommen. »Du darfst dort nicht hingehen«, hatte er gesagt. Sie hatte ihn zu trösten versucht und »ruhig« und »alles wird gut« gesagt, doch er war nicht von seiner Idee abzubringen gewesen. »Du darfst dort nicht hingehen.« Dann hatte er ihr das Haus beschrieben, gegenüber der Shaw Boulevard Station, unweit des Ortes, an dem Magdalena ein Zimmer gemietet hatte. Und den Fahrradmechaniker. Die grünen Jalousien und die blaue Farbe, die noch daran erinnerte, dass das Haus einmal in Pastellfarben gestrichen worden war.
Tags darauf war der alte Pilot tot. Eine Woche später stürzte das Haus an der Shaw Boulevard Station in sich zusammen. Magdalena hatte ihr Fahrrad bei dem Mechaniker zur Reparatur gegeben und es dort gelassen, weil sie es nicht gewagt hatte, sich dem Haus zu nähern. Neunzehn Menschen fanden darin an diesem Tag den Tod.
Nach diesen Geschehnissen war sie in den Orden des Heiligen Herzens eingetreten und hatte ihren Namen geändert. Magdalena – die Hure, die Jesus vor dem Tod durch Steinigung errettet hatte.
Seit diesem Tag saß sie sechs Tage in der Woche an den Betten der Sterbenden. In der einen Woche nachts, in der nächsten tagsüber. Einen Tag hatte sie frei, und den nutzte sie, um zu schlafen und Friends im Fernsehen anzuschauen.
Schwester Magdalena hatte dem Oberarzt im Hospiz von ihrem Erlebnis erzählt und hatte dabei die unangenehmen, intimen Details ausgelassen. Der Arzt hatte ihr nur lächelnd die Hand getätschelt. Brauchen die Menschen noch mehr Beweise?, fragte sie sich selbst. Der alte Pilot hatte das Haus mit der Fahrradwerkstatt nie gesehen. In dieses Viertel kamen keine Ausländer. Trotzdem konnte er es bis ins Detail beschreiben. Man muss den Sterbenden zuhören, wie groß ihre Sünden auch gewesen sein mögen, dachte sie immer wieder. Der Pilot war im Krieg gewesen, er hatte getötet, getrunken und Gewalt gegenüber den Mädchen angewendet, die er für Sex bezahlt hatte. Trotzdem hatte Gott ihn auserwählt, um Schwester Magdalena zu retten. Man muss den Sterbenden zuhören.
Schwester Magdalena hoffte, dass auch Tommaso di Barbara auf das hörte, was seine sterbende Mutter sagte.
***
Tommasos Mutter schlief. Ihr Mund stand offen, und sie schnarchte leicht. Er stellte die Tüte mit den Einkäufen neben den kleinen Herd und den Pappkarton mit den Unterlagen über die Mordfälle irgendwo auf den Boden. Zuerst hatte er die Sachen in einem Schrank in seinem Büro versteckt, doch jetzt lagen sie in dem Pappkarton, den Marina für ihn aus dem Präsidium geschmuggelt hatte. Als wären diese Unterlagen dazu verurteilt, im Dunkeln zu bleiben – als wollte niemand etwas davon wissen.
Tommaso hatte scharfe Salami, Tomaten und Knoblauch für seine Mutter gekauft, obwohl sie nichts aß. Aber sie genoss den Geruch. Tommaso konnte sie gut verstehen – der Gestank nach Tod und Desinfektionsmitteln im Hospiz dominierte alles. Obwohl alle Zimmer frisch renoviert und mit Herd und Schlafplätzen für die Angehörigen ausgestattet worden waren, fehlten über den Kochstellen die Abzugshauben, so dass sich der Essensdunst schnell verbreitete und wie ein Segen
Weitere Kostenlose Bücher