Die Auserwählten
über alles legte.
»Mutter?«
Tommaso setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Die Haut spannte über ihren Knochen. Es gab so vieles, worüber sie nie gesprochen hatten. So vieles, von dem er noch keine Ahnung hatte. Die Zeit des Krieges. Tommasos Vater hatte einige Monate im Gefängnis gesessen, weil er sich für die falsche Seite entschieden hatte. Wenn er auch selbst nie dieser Meinung gewesen war, auch später nicht. Er war zeit seines recht kurzen Lebens Faschist geblieben. »Jetzt können wir endlich Frieden finden«, hatte seine Mutter bei der Beerdigung gesagt. Sein Leichnam war verbrannt worden und seine Urne Teil eines fantastischen Mosaiks aus aufeinandergesetzten Urnen. Ein Labyrinth, in dem Tommaso sich beim ersten Mal beinahe verlaufen hätte, aber der Friedhof auf der Insel außerhalb der Stadt konnte aus Platzgründen nicht erweitert werden, weshalb man begonnen hatte, in die Höhe zu bauen. Mit dem Resultat, dass gleichsam zu beiden Seiten der Wege Wände in den Himmel ragten. Schmale, verwinkelte Gänge zwischen rechteckigen Kästen, die sich auftürmten.
Tommaso zweifelte aber daran, dass seine Mutter sich den Platz wünschte, der neben seinem Vater für sie vorgesehen war. Die Zeit war gekommen, sie danach zu fragen.
»Mutter?«
Sie wachte auf und sah ihn ohne ein Wort oder eine Spur des Wiedererkennens an.
»Ich bin es.«
»Das sehe ich doch. Glaubst du, ich bin blind geworden?«
Er lächelte. Sie war ein harter Brocken. Jederzeit gut für eine Ohrfeige oder einen Klaps auf den Rücken. Aber auch für Trost. Tommaso atmete tief ein. Er konnte es nicht mehr länger vor sich herschieben.
»Mutter, du weißt, wo Vaters Urne liegt …«
Keine Antwort. Die Mutter richtete den Blick starr an die Decke.
»Wenn du einmal von uns gegangen bist. Willst du dann auch dort liegen?«
»Hast du den Platz gekauft?«
»Mutter.«
»Koch uns etwas, Junge. Dem Duft zuliebe.«
Er schüttelte den Kopf.
Sie tätschelte seine Hand. »Ich habe alles, was du wissen musst, Schwester Magdalena erzählt. Sie sagt dir dann alles. Hinterher. Hör auf sie.«
Als er aufstehen wollte, drückte sie seine Hand mit überraschender Kraft.
»Hörst du? Ich sage Schwester Magdalena alles. Tu, was sie sagt.«
Er zögerte. Erinnerte sich kurz an das Geschwafel über Geld, das er nicht zahlen sollte, von dem die Schwester ihm berichtet hatte. Dann lächelte er sie beruhigend an. »Ja, Mutter, das werde ich.«
20.
20.
Helsingør
Eine Stunde Fahrt und eine neue Welt tat sich auf.
Es war fast so, als konnte man die Stadt erst fassen und begreifen, wenn man aufs Land rauskam. Der Lärm, die Menschen, der Verkehr – das Leben als Zustand eines konstanten Zitterns. Die Frage, die sich dann stellte, war, ob man auch das Land erst begriff, wenn man wieder in der Stadt war: der unendliche Himmel.
Die flache, weitläufige Sommerhauslandschaft empfing ihn mit vollkommener Dunkelheit. Felder, Wege und Lichtungen verschwammen ineinander. Nur das Wasser des Sees sah er durch das kleine Wäldchen schimmern.
Niels trat auf die Bremse, und der Wagen stoppte abrupt. Er warf einen Blick auf das Straßenschild und setzte etwas zurück. Schotter knirschte unter den Reifen. Er fuhr ein paar Hundert Meter weiter und parkte vor dem einzigen Haus am Ende des Weges. Durch ein Fenster drang schwaches Licht. Lund , stand am Briefkasten.
Niemand öffnete, als Niels an die Tür klopfte.
Er lauschte. Eine Mücke sirrte direkt vor seinem Gesicht. Er wedelte sie mit der Hand weg und wunderte sich. Sollten die Mücken im Dezember nicht längst weg sein? Er klopfte noch einmal an, dieses Mal fester. Wieder keine Reaktion. Niels ging um das Haus herum. Es war windstill, die Luft war mild, aber etwas kühl. Er kam auf eine kleine Veranda, von der aus man auf den davor liegenden See blicken konnte. Als er an die Terrassentür klopfen wollte, hörte er vom See her ein leises Platschen. Er drehte sich um. Jemand stand auf dem Badesteg. Eine Frau. Niels konnte ihre Silhouette nur erahnen und ging nach unten.
»Entschuldigen Sie.« Niels scheute sich, die faszinierende Stille zu durchbrechen. »Ich bin auf der Suche nach Gustav Lund.«
Die Frau drehte sich um und musterte ihn. Sie hielt eine Angel in der Hand.
»Nach Gustav?«
»Ich würde gern mit ihm reden.«
»Er ist in Vancouver. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?«
»Niels Bentzon, Polizei Kopenhagen.«
Keine Reaktion, nicht einmal ein Wimpernzucken. Ungewöhnlich. Niels war es
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