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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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können erst mit den anderen leben, wenn wir die Sünde als eine Grundbedingung akzeptiert haben.«
    Niels senkte den Blick und sah zu Boden der Kirche.
    »Jetzt habe ich Ihnen wohl Angst eingejagt. Darauf verstehen wir Geistliche uns.« Rosenberg lachte.
    »Ich habe Ihre Nummer«, sagte Niels. »Ich kann sehen, wenn Sie anrufen. Versprechen Sie mir, dass Sie sich melden, wenn etwas passiert.«
    Niels ging zum Auto zurück. Vor dem Kellerfenster blieb er noch einmal stehen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das Kellerfenster. Der Junkie. Die Tätowierung. Rosenbergs Lüge. Vieles passte nicht zusammen, wobei es fraglich war, ob das alles überhaupt zusammengehörte. Die Logik kam ins Wanken. Das war der Fluch, mit dem die Polizei immer zu kämpfen hatte. Die Menschen waren verlogen, und es galt, die Lüge zu finden, die nicht nur eine Sünde, sondern ein Verbrechen vertuschte.

19.
    19.
    Ospedale Fatebenefratelli, Venedig
    Die Nonne stammte von den Philippinen. Schwester Magdalena vom Orden des Heiligen Herzens. Tommaso mochte sie. Ein schönes, lächelndes Gesicht, das den unheilbar Kranken auf ihrem Weg aus dieser Welt beistand. Das neu eingerichtete Hospiz befand sich im Norden des alten jüdischen Viertels. Tommaso brauchte vom Ghetto bis dort nur wenige Minuten. Man nannte das Viertel noch immer Ghetto, obgleich das Wort inzwischen eine ganz andere Bedeutung hatte. Dabei kam diese Bezeichnung wirklich von hier, denn ›getto‹ bedeutete auf Italienisch ›Gießerei‹. Vor einigen Hundert Jahren lebten in diesem Viertel die venezianischen Schmiede gemeinsam mit den Juden. Doch irgendwann sperrte man das Viertel für die Juden ab, verschloss die Tore und verwehrte ihnen so den Zugang zur übrigen Stadt. Dieses Viertel wurde als Ghetto bekannt. Eine Bezeichnung, die in vielen Stadtteilen der Welt aufgegriffen wurde, die alle gemein hatten, dass die Menschen nicht aus ihnen herauskamen.
    Tommaso betrat das Hospiz. »Signore di Barbara?« Schwester Magdalena flüsterte. Eine göttliche Ruhe lag über dem Ort, niemand erhob jemals die Stimme. Als wollte man die Patienten auf die ewige Ruhe vorbereiten, von der sie bald ein Teil werden sollten.
    »Ihre Mutter hatte heute Nacht sehr gelitten. Ich habe die ganze Zeit bei ihr gesessen.«
    Sie sah ihn aus ihren schönen Augen an. Der Gedanke war primitiv, er konnte ihn aber nicht verdrängen: Warum war sie Nonne, wo sie doch so schön war?
    »Sie haben ein gutes Herz, Schwester Magdalena. Meine Mutter kann sich glücklich schätzen, jemanden wie Sie an ihrer Seite zu haben.«
    »Und einen Sohn wie Sie zu haben.«
    Sie meinte, was sie sagte – daran zweifelte Tommaso nicht –, aber dennoch meldete sich sein schlechtes Gewissen mit der Präzision eines Uhrwerks.
    »Ich werde jetzt mehr Zeit haben.« Er zögerte. Warum erzählte er ihr das überhaupt? »Ich bin vom Dienst suspendiert worden.«
    Sie nahm seine Hand. »Vielleicht ist das ein Geschenk.«
    Er musste ein Grinsen unterdrücken. Ein Geschenk?
    »Ihre Mutter hat nach Ihnen gerufen.«
    »Es tut mir leid. Ich hatte Nachtdienst.«
    »Sie hat sich Sorgen um Sie gemacht. Redete immer wieder von etwas, wofür Sie nicht bezahlen dürften.«
    »Bezahlen?«
    »Sie sollen das Geld nicht aus den Händen geben. Das sei gefährlich.«
    Tommaso sah sie verwundert an. »Das hat meine Mutter gesagt?«
    »Ja. Mehrmals. ›Du darfst nicht bezahlen, Tommaso – du bringst dich in Gefahr.‹«
    ***
    Schwester Magdalena blickte Tommaso di Barbara nach, als er mit der Plastiktüte in der einen und einem großen Pappkarton in der anderen Hand über den Flur davonging. Dieser Mann wirkt irgendwie verloren, dachte sie und sah ihn an den acht Räumen vorbeigehen, die Venedigs einziges Hospiz zu bieten hatte. Tommasos Mutter lag im hintersten Zimmer, dessen Fenster zur Straße hinausging. Abgesehen von einer Palme waren jetzt alle Bäume kahl. Der Flur war weihnachtlich geschmückt worden. Girlanden und Lichterketten säumten das Porträt von Maria und dem neugeborenen Erlöser.
    Schwester Magdalena hörte immer ganz genau auf die letzten Bitten und Äußerungen der Sterbenden. Aus Erfahrung wusste sie, dass diejenigen, die bereits mit einem Bein im Jenseits standen, manchmal die Gabe hatten, einen Blick in die Zukunft zu werfen – hinüber auf die andere Seite. Oft redeten sie nur wirres Zeug. Aber eben nicht immer. Magdalena betreute Sterbenskranke, seit sie vor fünfzehn Jahren in den Orden des Heiligen Herzens eingetreten war. Sie hatte

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