Die Auserwählten
Kopf, bis alle Terroristen tot waren. Russland stand anschließend unter Schock. Was auf den ersten Blick wie ein Sieg aussah, entpuppte sich als eine Tragödie unbegreiflichen Ausmaßes. Einhundertneunundzwanzig Geiseln waren tot. Darunter zehn kleine Kinder. Neunundsechzig Kinder wurden infolge des Angriffs zu Waisen. Einige der Geiseln waren von den Terroristen erschossen worden, doch die meisten starben durch das Gas oder die mangelnde medizinische Versorgung in den ersten Minuten, nachdem sie aus dem Theater gebracht worden waren. Es standen nur wenige Krankenwagen bereit. Den Menschen wurde nicht die medizinische Hilfe zuteil, der sie bedurft hätten, nicht einmal ansatzweise. Einige erstickten sogar in den überfüllten Bussen, mit denen sie abtransportiert wurden.«
Niels musste innehalten und legte den Artikel weg. Er sah die entsetzten Kinder vor sich, inmitten von Terroristen, Sprengstoff und scharfen Waffen, und dann das Warten, die Angst. Vielleicht hatte er seinerzeit auch eine Dokumentation über das Attentat gesehen.
»Aber was hat das alles mit Vladimir Zjirkov zu tun?«, fragte Hannah.
»Gute Frage. Vielleicht hat er den Artikel geschrieben. Er war Journalist.«
»Aber dann hätte der Italiener doch noch zahllose andere Artikel von ihm dazulegen können.«
Niels nickte und blätterte in den fragmentarischen Informationen.
»Aufgewachsen ist er in der Moskauer Vorstadt Khimki. Seine Mutter war Krankenschwester. Der Vater hat Selbstmord begangen, als Vladimir noch ein Kind war. Hier ist ein Kommentar aus einer alten Clubzeitschrift. Ich glaube, Eishockey: ›Der zwölfjährige Vladimir Zjirkov ist ein großes Talent. Aber an seiner Psyche muss gearbeitet werden, wenn er sich Hoffnungen auf eine Karriere als Eishockeyspieler machen will. Er wirkt zu oft resigniert und niedergeschlagen.‹ Warum hat der Italiener denn das übersetzt?«
»Hier ist ein Auszug aus einem Interview aus … es steht nicht dabei, aus welcher Zeitschrift es stammt.«
»Mit Zjirkov?«
»Leider nein, mit einem Lehrer, Aliksej Saenko.«
»Wer ist das denn?«
»Er muss eine von den Geiseln im Theater gewesen sein. Er hat gesagt: ›Am schlimmsten waren die Nächte im Theater. Wir saßen nebeneinander auf unseren Plätzen, als nähmen wir an der Vorstellung eines Albtraums teil, der kein Ende nehmen wollte. Am Rand der Bühne vor dem Orchestergraben lagen drei Leichen. Einer der Toten war ein junger Mann, der zu fliehen versucht hatte, als die Terroristen den Raum stürmten. Sie hatten ihm in den Bauch geschossen. Ich konnte sehen, wie die Eingeweide herausquollen. Stundenlang hatte er gejammert, und als er starb, dachte ich nur: endlich. Von seinem Wimmern konnte man wahnsinnig werden. Kinder weinten. Unablässig. Und Eltern versuchten, sie zu trösten. Die Terroristen liefen zwischen uns herum. In der Mitte des Theaters hatten sie eine Riesenmenge Sprengstoff platziert. Wirklich eine Riesenmenge, das kann ich Ihnen versichern. Es war von einem Berg aus Tod die Rede. Ich saß nur wenige Meter entfernt und dachte: Hier kommen wir niemals lebend wieder raus. Der Anführer der Terroristen, Barajew, wirkte alles andere als ausgeglichen. Er war mit Handgranaten behängt und schien unter dem Einfluss euphorisierender Drogen zu stehen.‹«
»Ich bin nach Moskau gekommen, um zu sterben«, sagte Hannah.
»Was?« Niels blickte auf.
»Das hat er gesagt«, erklärte Hannah. »Ich erinnere mich daran. ›Ich bin nach Moskau gekommen, um zu sterben.‹ Das stand auf jeden Fall damals in den dänischen Zeitungen.«
Niels las weiter: »›Irgendwann gab es eine Auseinandersetzung zwischen einer Geisel und einem Terroristen. Eine junge Mutter war unter dem Druck zusammengebrochen. Sie hatte zwei Kinder auf dem Schoß, das eine war noch ein Baby. Das andere – es war vielleicht fünf – zitterte vor Angst. Plötzlich sprang die Mutter auf und stürzte sich auf die Terroristen. Sie schimpfte sie Psychopathen, Mörder und verwöhnte Muttersöhnchen, denen nichts anderes einfiel, als Frauen und Kinder zu töten. Die Terroristen zerrten die Frau und die Kinder mit sich. Die Kinder schrien. Es gab keinen Zweifel, dass sie sie erschießen würden. Doch da erhob sich ein Mann, ein ganz junger – er saß in der Reihe hinter der Frau – und sagte, dass sie anstelle der Frau gern ihn erschießen sollten. Ich erinnere mich noch an seine genauen Worte: ›Lassen Sie mich ihre Kugel nehmen, ich kann sie besser ertragen.‹ Eine fürchterliche
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