Die Auserwählten
ist? Es gibt einen Sufi-Dichter namens Rumi. Er hat eine Geschichte über einen kleinen Jungen geschrieben, der in seinen Träumen von einem bösen Monster verfolgt wird. Die Mutter des Jungen tröstet ihn und sagt ihm, er solle nur an sie denken, dann würde das Böse schon verschwinden. ›Aber, Mama‹, sagte da der Junge. ›Was ist, wenn das Monster auch eine Mutter hat?‹«
Rosenberg lächelte. »Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Die Bösen haben auch eine Mutter, Herr Bentzon. Eine Mutter, die tröstet und sagt, dass sie das Richtige tun. Für sie sind wir die Monster.«
***
Schnee fiel vom Himmel, als sie vor die Tür und in die kalte, klare Luft traten. Die wirbelnden Flocken hatten etwas Unbekümmertes. Die Beamten rückten langsam ab. Niels wandte sich an den Pastor.
»Sie können jederzeit anrufen.«
Rosenberg nickte. Vielleicht wollte er noch etwas sagen, doch er schwieg, als einer der Beamten zu ihnen trat. Er reichte Niels ein Päckchen.
»Was ist das?«
»Aus Venedig. Das kam heute mit der Botschaftspost.«
Niels öffnete das kleine Paket. Es enthielt eine Kassette mit chinesischen Schriftzeichen. Verwundert steckte er sie in die Tasche.
»Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit«, sagte Rosenberg.
Niels sah auf. Der Pastor schien zu frieren.
»Eine andere Möglichkeit?«
»Vielleicht ist es Gott selbst, der die sechsunddreißig entfernt.«
»Sie meinen, Gott ist der Mörder?«
»So sollten Sie das nicht sehen. Akzeptiert man Gott, akzeptiert man auch, dass der Tod nicht das Ende ist. Sie sollten sich eher vorstellen, dass er sie nach Hause holt.«
»Gott holt seine besten Menschen nach Hause?«
»Etwas in der Art, ja.«
Die Türen der Streifenwagen fielen zu. Dann wurden die Motoren angelassen.
»Aber warum sollte Gott das tun?«
Der Pastor zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, um uns auf die Probe zu stellen?«
»Auf die Probe?«
»Ja, um zu sehen, wie wir reagieren.«
Niels trat zur Seite, damit der Wagen losfahren konnte. Auf der Rückbank sah er Abdul Hadi und fing seinen Blick ein. Er sah aus wie ein verwundetes Tier. Nicht wie ein Monster.
»Ob wir reagieren.«
48.
48.
Nørrebrogade, Kopenhagen
Das Funk-und Fernsehgeschäft lag eingezwängt zwischen einer Pizzeria und einem Gebrauchtwarenhandel und machte keinen guten Eindruck. Als er eintrat, dröhnte ihm aus nicht weniger als acht Fernsehern, die wie ein Turm übereinandergestellt waren, die Botschaft aus dem Bella Center entgegen: Die Welt ist im Begriff abzusaufen. Es ist die allerletzte Chance. Niels legte die Kassette mit den chinesischen Schriftzeichen auf den Tresen und versuchte Augenkontakt mit dem Jungen aufzunehmen, der sichtlich unmotiviert hinter der Kasse stand.
»Was ist das?«, fragte er.
»Eine Tonkassette. Ich suche nach einem Rekorder, mit dem man das abspielen kann. Haben Sie so etwas?«
»Das weiß ich nicht.«
Niels sah ihn an. Abwartend. Es geschah aber nichts, so dass er schließlich fragte.
»Könnten Sie das vielleicht herausfinden?«
»Einen Augenblick.« Der Verkäufer drehte sich um und rief: »Papa!« Seine Stimme überschlug sich und schrillte in Niels’ Ohren. Er dachte unweigerlich an die Kinder, die er nicht hatte. Wäre Kathrine damals schwanger geworden, als sie es so intensiv versucht hatten, wären seine Sprösslinge jetzt vielleicht auch im Stimmbruch.
Ein Mann mittleren Alters mit bemerkenswert fettigen Haaren kam aus einem Hinterzimmer. Sein Auftreten hatte etwas Ablehnendes, Beleidigtes.
»Ja«, zischte er.
»Ein Rekorder. Ich suche nach einem Rekorder, mit dem ich die hier abspielen kann.«
Der Mann studierte das Band, zog die Nase hoch und verschwand wieder im Hinterzimmer. Niels trat ein paar Schritte zur Seite und nahm sein klingelndes Handy heraus.
»Ja?«
»Niels, ich glaube, ich habe es.«
»Was haben Sie?«
»Das System. Es ist so wunderbar, Niels. Ein wahres Wunderwerk. Wenn denn …«
»Von vorn, Hannah. Ich bin ein bisschen müde.«
»Ich erkläre das alles später. Hören Sie mir einfach zu: Ich weiß, wo die fehlenden Morde begangen worden sind. Alle.«
»Fehlende Morde?«
»Ja! Ausgehend von der These, dass die Kette nicht unterbrochen wurde – die letzte Nummer war die vierunddreißig. Gefunden worden sind insgesamt einundzwanzig. Es fehlen also dreizehn Morde – ich weiß, wo Sie die finden werden. Einer in Santiago, einer in Hanoi, einer in Belem, einer in Kapstadt, einer in Nuuk …«
Niels unterbrach sie: »Moment, Moment.
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