Die Ausgelieferten
vierzig Prozent der Internierten haben keinen Puls mehr; ihre Augen reagieren nicht mehr auf normales Licht, sie können keine Kirchenlieder mehr singen, sondern nur noch beten; Appelle können nicht mehr durchgeführt werden.«
Diese Feststellung wurde in einem redaktionellen Kommentar getroffen. Darauf folgt, in einem direkten Zitat, der Bericht Dr. Strandells über den Zustand der Balten.
»Fast alle Internierten sind jetzt bettlägerig; dreißig bis vierzig Prozent haben keinen Puls mehr. Die anderen haben einen äußerst schwachen Puls. Bei denen, die sich im Bett aufrichten, bemerkt man deutliche Wirkungen des Hungerns. Mehrere klagen über Kopfschmerzen und Schwindelgefühle, sie sind schlapp und apathisch. Andere haben Schmerzen in den Füßen und in den Beinen, die vermutlich auf Störungen der Herztätigkeit und des Blutkreislaufs zurückzuführen sind. Die vom Hunger verursachten Magenschmerzen haben sich bei manchen nach kurzer Zeit gegeben. Bei anderen wiederum sind manche Körperteile erkaltet. In einigen Fällen habe ich auch Hungerödeme, also krankhaft aufgeschwollene Körperteile, feststellen können. Es handelt sich folglich um Krankheitssymptome, die wir auch aus den Konzentrationslagern kennen.«
Bemerkenswert seien auch die trägen und schlechten Pupillenreaktionen der Balten, fügt Dr. Strandell hinzu. »Ihre auffallend großen Pupillen reagieren nicht mehr auf normales Licht. Heute abend werden vermutlich drei neue Patienten ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen.«
Am Mittwoch wurde damit begonnen, sämtliche Insassen des baltischen Lagers ins Krankenhaus zu bringen.
Verzweiflung und Erschöpfung. Es ist vielleicht auch möglich, den Mechanismus des Gefühls wiederzugeben, das nichts weiter ist als absolute und totale Verzweiflung. Vielleicht ist das möglich. Möglicherweise ist es aber leichter, die Erschöpfung zu beschreiben, die einem siebentägigen Hungerstreik folgt.
Er machte ein Experiment.
Am Donnerstag, 13. April 1967, begann der Untersucher selbst mit einem Hungerstreik, dem die gleichen Bedingungen zugrunde lagen wie dem Hungerstreik der Balten. Er erlaubte sich nur, Leitungswasser zu trinken, sonst nahm er nichts zu sich. Die Fastenzeit wurde an einem Donnerstagmorgen begonnen; er folgte dem Beispiel der Balten von Ränneslätt mit absoluter Genauigkeit.
Gewicht an diesem Morgen: 79,2 Kilogramm. Größe: 192 Zentimeter.
Man konnte ihn als lang und recht schmal bezeichnen. Seine körperliche Kondition war nach langjähriger Schreibtischarbeit, nach reichlichem Tabakgenuss und völligem Mangel an Bewegung nicht eben zufriedenstellend.
Seine Kondition ließ sich in einer exakten Zahl ausdrücken: an diesem Morgen erreichte er auf dem Ergometer-Fahrrad 40 Milliliter Sauerstoff pro Kilogramm und Minute.
Die Balten waren zumeist wohltrainiert; einige waren Berufssoldaten, die meisten waren in bester körperlicher Verfassung. »Als sie nach Schweden kamen, sahen sie wie kräftige Bauernjungen aus.« Während des Sommers hatten sie in der frischen Luft gearbeitet, sie hatten Fußball gespielt, gut gegessen und waren in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Er glaubte nicht, von günstigeren Bedingungen auszugehen als die Balten.
Der erste Tag war anstrengend, der Magen knurrte unausgesetzt, er fühlte sich lustlos und reizbar. In der Nacht schlief er unruhig; er erwachte früh am Morgen, lag lange in der Dunkelheit wach, sah den Tag heraufdämmern und dachte an die Sinnlosigkeit seines Experiments. Im Verlauf des Freitags verschwanden langsam die Hungerschmerzen, er trank nur noch wenig Wasser und konnte sich besser auf seine Arbeit konzentrieren. Am Nachmittag ging er in die Sauna, schwamm langsam, aber lange im Becken herum, zog sich an und entdeckte, dass er seinen Hunger jetzt schon während langer Perioden einfach vergessen konnte.
Am ersten Tag verlor er 1,7 Kilogramm, am zweiten 1,2 Kilogramm.
Der beißende Hungerschmerz ließ immer mehr nach, und je weiter die Zeit fortschritt, desto mehr sollte er ihn einfach vergessen. Der Ausdruck »Schmerz« traf nicht einmal in den schlimmsten Stunden zu, er empfand den Hunger eher als ein dumpfes Knurren, als ein stilles Nagen. Morgens machte er nach wie vor einen Waldlauf, nachmittags ging er in die Sauna und schwamm ein bisschen: das war recht angenehm, und er beschloss, diese körperlichen Übungen auch nach Abbruch des Experiments fortzusetzen.
Am Sonntag: Kindtaufe. Es war nicht schwer, auf Kaffee und Kuchen zu
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