Die Ausgelieferten
26. in der Redaktion erschien, und empfahlen spontan eine härtere Haltung.
War das alles? Gab es keine rein taktischen Gründe für das plötzliche Umschwenken?
Es mag sie bei einigen wenigen mehr oder minder bewusst gegeben haben. Da war einmal die Verlockung, gegen den Strom zu schwimmen: einmal mehr den Eindruck zu verfestigen, als sei Expressen die furchtlose, immer oppositionelle Zeitung. Dies konnte in diesem Fall um so risikofreier gemacht werden, als die Kampagne in der Presse mit der Meinung des »Mannes auf der Straße« nicht viel gemein zu haben schien. Wie sehr die Rechts-Presse auch toben mochte, so schien es den meisten Schweden doch am wichtigsten zu sein, die Balten möglichst schnell loszuwerden. Jetzt gegen den Strom zu schwimmen hieß also, mit einem unter der Oberfläche um so breiter dahinfließenden Strom mitzuschwimmen. Das war ein Argument, das eine erst vor kurzem gegründete Zeitung nicht einfach abtun konnte.
Es kam der Montag, der den Kurswechsel von Expressen offenkundig werden ließ: Zeitungen werden – ebenso wie Meinungen – von Menschen gemacht.
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40 Prozent der Internierten sehen dem Tod ins Auge.
Schlagzeile in »Svenska Dagbladet« vom 28.11.1945
Die Balten waren müde und mitgenommen, eine direkte Lebensgefahr bestand aber gleichwohl nicht. Es wurde in den Zeitungen viel über ihren bedrohlichen Zustand geschrieben, aber das meiste war übertrieben. Wir zogen ja immer einen Schwarm von Journalisten hinter uns her; wir versuchten, so wenig wie möglich zu sagen, sie schrieben aber trotzdem irgendwas.
Interview mit Prof. Gunnar Inghe,
einem von der Regierung bestellten Kontrolleur, am 26.8.1967
H interher schien allen Legionären nur eines im Gedächtnis geblieben zu sein: die Erinnerung an eine absolute Verzweiflung. Sie lagen in ihren Betten, blickten an die Zimmerdecke, sahen Ärzte und Pfarrer kommen und gehen, hörten morgens und abends, wie sie gezählt wurden, und das einzige, was sie empfanden, war eine tiefe Verzweiflung.
An den Hunger erinnert sich keiner von ihnen.
Die Auswirkungen des Hungerns wurde in allen Zeitungen dafür um so eingehender beschrieben.
Die ersten Tage vergingen ohne sonderlich alarmierende Meldungen; erst die am 25. November erschienenen Morgenzeitungen berichteten, dass die Internierten »erste Symptome von Erschöpfung« zu zeigen begännen. Man erwartet, dass die jungen Balten als erste aufgeben werden, weil sie über die geringste Widerstandskraft verfügen. Am Tag darauf, am 26. November, schlug Stockholms-Tidningen kritischere Töne an. »Heute abend sieht es in Ränneslätt kritisch aus. Die Balten liegen halb bewusstlos auf ihren Pritschen und zählen nur noch die Minuten bis zum bisher unbekannten Zeitpunkt des großen Aufbruchs. Ein Pfarrer, der das Lager am Sonntag besuchte, bezeichnete seinen Aufenthalt in den Baracken als ›eine Wanderung im Tal des Todesschattens‹. Die Menschen liegen hohläugig in den Betten und starren an die Decke. Die Jüngeren werden vom Hunger mehr und mehr aufgezehrt, verharren aber in derselben unerschütterlichen Entschlossenheit. Das Knäckebrot haben sie in die Schuhe gesteckt, die unter den Betten liegen.«
Warum das Knäckebrot in den Schuhen lag, wird nicht erklärt.
Am Montag, dem 26. November, nach dem Bescheid, der Abtransport sei verschoben worden, schien sich im Lager eine gewisse Erleichterung spürbar zu machen, die sich auch im körperlichen Zustand der Internierten widerspiegelte. Nach und nach trat aber der alte Zustand wieder ein. »25 Prozent der Balten sind jetzt so geschwächt, dass wir sie ins Krankenhaus bringen müssen«, erklärte der Lagerarzt Dr. Brattström in einem Interview mit Svenska Dagbladet . »Mehrere der jüngeren Balten zeigen Symptome von Gleichgewichtsstörungen, sie werden bei den Appellen ohnmächtig, und außerdem fällt es ihnen schwer, sich überhaupt aus den Betten zu erheben. Wenn es ihnen doch gelingt, taumeln sie. Andere haben sich Krankheiten wie Herzschwäche, Gelbsucht und Rheumatismus zugezogen. Einige Balten werden mit Kollaps-Symptomen verschiedenster Art in Garnisons-Krankenhäuser gebracht. Viele haben kalte Fingerspitzen, Nasen und Ohrläppchen.«
Am nächsten Abend, Dienstag, fünf Tage nach Beginn des Hungerstreiks, erschienen im Svenska Dagbladet alarmierende Berichte. Ein von der Regierung beauftragter Arzt, Dr. Birger Strandell, gab an diesem Abend einen – laut Svenska Dagbladet erschütternden – Bericht. »Dreißig bis
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