Die Ausgelieferten
mit den Worten eingeleitet: »Der Montagmorgen hat in der Balten-Frage eine klare Ernüchterung gebracht.«
Es war offenkundig, dass seine Abwesenheit den Rausch hatte verfliegen lassen. Er kehrte sofort nach Stockholm zurück.
Chefredakteur der Zeitung Expressen war Ivar Harrie, verantwortlicher Herausgeber Carl-Adam Nycop. Zweiter Redaktionssekretär war Sigge Ågren; der Redakteur für Auswärtige Angelegenheiten, Bo Enander, schrieb auch gelegentlich Leitartikel.
Diese vier Männer waren an der Kursänderung maßgeblich beteiligt.
Alle vier waren in der Frage der Auslieferung anderer Meinung als Wrigstad. Harrie war ein heftiger Nazi-Gegner sowie jeder Gefühlsduselei abhold, Nycop war im allgemeinen linksorientiert, Bo Enander konnte man zu dieser Zeit als großen Sowjetfreund bezeichnen, und Sigge Ågren war Sozialdemokrat.
Die Initiative zur Kursänderung kam von zwei Seiten. Ivar Harrie war der eine Ausgangspunkt. Er hatte mit wachsender Unlust beobachtet, wie die Kampagne sich verlagert hatte, wie sie sich mit Argumenten und Gefühlen vermischt hatte, die er nicht mehr mit seiner Überzeugung in Einklang bringen konnte. Für Harrie war es selbstverständlich, dass Undén an dem vor seiner Zeit gefassten Beschluss festhalten musste, und die baltischen Militärs betrachtete er mehr oder weniger als Quislinge. Die Entrüstungskampagne verlagerte sich nach Harries Meinung auch insofern auf eine unsachliche Ebene, als behauptet oder unterstellt wurde, Undén habe eingewilligt, sämtliche in Schweden befindliche Balten auszuliefern, »was ja eine klare Lüge war. Diese Kampagne ist es gewesen, die mich bewogen hat, den Kurs der Zeitung schärfer zu überwachen – übrigens in Übereinstimmung mit dem Auslandsredakteur Bo Enander, und seiner streng sachlichen politischen Einschätzung«.
Die Abwesenheit Per Wrigstads bezeichnet er als reinen Zufall. Überdies hatte Harrie ja auch de facto das letzte Wort über den Kurs des Blatts.
Den letzten Anstoß erhielt er, als er morgens in die Zeitung ging: es muss am Montag gewesen sein. In ganz Stockholm waren über Nacht Plakate angebracht worden, sie klebten an Litfaßsäulen und den damals noch allgegenwärtigen Holzstapeln. »Willst Du dafür die Verantwortung übernehmen?« appellierten die Plakate. Sie zeigten ein schlichtes, dramatisches Bild: ertrinkende Menschen. Es schienen meist Frauen und Kinder zu sein – vielleicht ein Zufall, vielleicht auch nicht –, die sich verzweifelt am Wappenschild Schwedens festzuklammern versuchten. Am oberen Rand der Plakate stand in großen Lettern nur: »DIE BALTEN«.
Harrie ging in die Redaktion und begann, einen Leitartikel zu schreiben.
Er erhielt die Überschrift: »Worum es in der Balten-Frage eigentlich geht«. Harrie versuchte herauszuschälen, was nach Abzug aller Gefühle und aller Sentimentalität übrigblieb. Es ging um 167 Balten, die einst deutsche Uniformen getragen hatten, aber nicht um Frauen und Kinder. Harrie wandte sich mit unerhörter Heftigkeit gegen eine Volksmeinung, einen »Propaganda-Apparat«, der mit Suggestion arbeitete und »allzu gespenstisch an die Bauern-Demonstrationen von einst und an die unglücklichsten Meinungsäußerungen zum finnischen Winterkrieg erinnert«. Harrie forderte durchaus nicht die Auslieferung der Balten: der Widerstand gegen die Auslieferung wurde als eine »an sich« gute Sache bezeichnet. Aber: »Die Angelegenheit der 167 Balten wird zum Vorwand genommen, um die Kräfte derer zu stärken, die ihre Chancen in einem dritten Weltkrieg sehen und Schweden in diesen Krieg hineinziehen möchten.«
Die zweite Initiative zur Kursänderung ging von Carl-Adam Nycop und Sigge Ågren aus, wobei nicht auszuschließen ist, dass die sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Disa Västberg den ersten Anstoß gab. Sie verfügte über gute Kontakte zu mehreren Angehörigen der Zeitung. In diesem Spiel hinter den Kulissen war sie eine Art Gegengewicht zu einer anderen, » Expressen nahestehenden Abgeordneten«, Helga Sjöstrand aus Eksjö, die sich der Auslieferung mit allen Kräften widersetzte.
Am 24. und am 25. November führten Disa Västberg, Nycop und Sigge Ägren mehrere Gespräche über die Auslieferung der Balten und die Entwicklung der öffentlichen Meinung. Es schien immer mehr Gründe, sachliche Gründe, für ein Eintreten gegen die Volksmeinung zu geben, die sich immer unschöner kundtat. Sie unterstützten Ivar Harrie folglich, ohne zu zögern, als dieser am Morgen des
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