Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
was es wolle.«
Mittlerweile haben wir die Stadt mehr als zur Hälfte durchquert. Plötzlich läuft mir ein Schauer über den Rücken. Ich suche die Fiebertabletten in meinem Erste-Hilfe-Set, aber dann durchfährt mich wieder ein Zittern. Dies ist kein Fieber, sondern etwas ganz anderes. Als ich noch klein war, haben meine Brüder mich immer wieder dazu angestiftet, Dinge zu tun, die meiner Mutter nicht gefielen – wie zum Beispiel Brot aus der Vorratskammer zu stibitzen oder heimlich ihr bestes Laken zu nehmen und in ein Piratenkostüm zu verwandeln. Ich wusste immer ganz genau, wann meine Mutter mich ertappt hatte, denn es überlief mich eiskalt, wenn sich ihre Blicke in meinen Rücken bohrten. Das gleiche Gefühl habe ich jetzt.
Irgendjemand beobachtet uns.
Überall um uns herum gibt es offene Fensterhöhlen, Eingänge und Risse in den Mauern. Zwar kann ich im Vorübergehen nichts Auffälliges bemerken, aber ich krame trotzdem meine Pistole aus der Tasche. Der Wind frischt auf, der Himmel wird grau. Ein Sturm zieht herauf. Vielleicht ist es das, was meine Haare im Nacken zu Berge stehen lässt.
Eine Bö reißt mir eine Strähne aus dem Haarknoten, den ich trage. Ich schiebe sie mir aus der Stirn, und da sehe ich es. Ein Gesicht, eingerahmt von einem Türsturz. Große, intelligente Augen, tief eingesunken in einem faltigen sonnengebräunten Schädel. Dicke braune Haarbüschel bedecken den Kopf, den Nacken und den Arm, den ich sehe. Mein Blut gerät ins Stocken, als ich die rasiermesserartigen Krallen am Ende der Hand entdecke. Sie sind viele Zentimeter lang. Scharf und giftig.
Das Heulen des Windes erfüllt die Luft. Doch nein. Das ist gar nicht nur der Wind. Das Wehen hat übertönt, was ich mich zu hören geweigert habe, als wir durch die Stadt liefen. Leises Gemurmel. Kehlige Laute, die die Böen zu uns treiben und die mir verraten, dass hier mehr als dieser eine Mensch lauert. Langsam drehe ich mich um, suche die Schatten ab und zähle die Gesichter, die ich sehe. Fünf. Zehn. Zwei weitere an einem Fenster im zweiten Stock. Es sind zu viele, als dass wir einen Angriff von ihnen überleben könnten. Aber noch gehen sie nicht auf uns los. Sie warten auf irgendetwas.
Tomas hat bislang nichts bemerkt. Seine Augen sind starr auf die Straße gerichtet, denn er hält angestrengt Ausschau nach vor uns liegenden Gefahren; den Fenstern drei Etagen weiter oben schenkt er keine Beachtung. Ich halte die Luft an, als ein leichter Regen einsetzt. Tomas flucht und schlägt vor, dass wir uns auf unsere Fahrräder setzen, damit wir schneller vorankommen. Aber ich reagiere nicht. Bislang haben diese Menschen in den Häusern nichts anderes getan, als uns zu beobachten. Vielleicht sehen sie uns nicht als Bedrohung an, weil wir zu Fuß unterwegs sind. Was geschieht wohl, wenn wir mit dem Fahrrad fahren? Schließlich saß ich auf einem, als ich angegriffen wurde. Wenn das Radeln der Auslöser für ihre Aggression ist, dann will ich diese Provokation nicht wiederholen.
»Cia, hast du mich gehört? Ich denke, wir sollten lieber fahren.«
Ich schüttele kaum merklich den Kopf, lege Tomas eine Hand auf den Arm und flüstere: »Sieh mal in die Fenster.« Er bleibt stehen, und als er rasch den Atem einsaugt, weiß ich, dass auch er Gesichter entdeckt hat. Ich beuge mich näher zu ihm und sage leise: »Es sind Dutzende von ihnen.«
»Sie sehen beinahe menschlich aus.« Tomas’ Hand tastet nach dem Griff seines Messers, und ich sehe, wie sich der Beobachter im Fenster bewegt.
»Es sind tatsächlich Menschen.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Der Regen wird heftiger und macht es schwerer für uns, die Augen zu erkennen, die alles, was wir tun, verfolgen. Die Kleidung klebt nass an unseren Körpern. Einer der Beobachter verlässt seinen Posten im Hauseingang. Seine Bewegungen sind flink und geschmeidig. Wieder greift Tomas nach seinem Messer, aber ich lege ihm eine Hand auf den Arm und schüttele den Kopf. Der Mann kommt aus dem Haus und bleibt drei Meter hinter uns stehen. Seine Augen blinzeln nicht, während er darauf wartet, was wir jetzt machen. Meine Brust fühlt sich ganz eng an, und ich bekomme kaum noch Luft, als wir uns quälend langsam wieder in Bewegung setzen. Donner grollt. Die Wunden an meinem Arm brennen. Zwei weitere Beobachter gesellen sich zu dem ersten auf der Straße. In aller Ruhe laufen sie hinter uns her.
Immer stärker prasselt der Regen auf uns ein. Ein Blitz zuckt über den Himmel und spiegelt
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