Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
gezeichnet sein. Als ob ich das je bezweifelt hätte.
Tomas’ Wunden sind dank der medizinischen Möglichkeiten in Tosu-Stadt besser und sogar ohne Narben verheilt. Wenn ich allerdings sehe, welche Blicke er und Will sich zuwerfen, frage ich mich, ob weitere Narben nicht unvermeidlich sein werden. Ich bin dankbar, dass das Protokoll der Auslese vorschreibt, alle Waffen sofort aus dem Gepäck der Kandidaten zu entfernen, sobald sie die Ziellinie überschritten haben. Nur dieser Regel habe ich es zu verdanken, dass ich nachts überhaupt ein Auge zubekomme.
Ich spüre, wie mich Will quer durch den Raum hinweg beobachtet. Als er merkt, dass ich ihn ertappt habe, lächelt er mir zu und winkt. Er sitzt bei einer Gruppe von anderen Kandidaten. Mit den meisten von ihnen habe ich noch kein einziges Wort gewechselt. Einer von ihnen ist Brick. Auch er hat mich noch nicht angesprochen, aber ich bin froh darüber, denn ich glaube kaum, dass ich mich mit ihm unterhalten kann, ohne dabei an das Massaker zu denken, das er mir zuliebe angerichtet hat. Ich frage mich, ob er überhaupt begriffen hat, dass er damals Menschenleben auslöschte, und ob ihn die blutigen Gesichter seiner Opfer in seinen Träumen heimsuchen, so wie sie mich quälen.
Auf der anderen Seite des Saals sitzt Stacia. Ihre Miene ist ebenso undurchdringlich wie während des Tests. Sie sitzt nicht mit ihrem Reisebegleiter, mit Vic, zusammen, sondern hat sich einen Tisch abseits von allen anderen gesucht. Der rothaarige Vic hat weit weg von ihr Platz genommen. Tracelyn, das Mädchen, das seinen Freund vermisste und so gerne Lehrerin werden wollte, ist nirgends zu entdecken. Der gehetzte Ausdruck in Vics Augen und das wissende Lächeln auf Stacias Lippen schüren meine Vermutung hinsichtlich dessen, was wohl mit ihr geschehen sein könnte.
Tomas und ich sprechen nicht mit anderen, während wir darauf warten, dass nach dem Ende der vierten Runde der Auslese endlich die Abschlussgespräche anfangen. Wir sitzen bei den Mahlzeiten zusammen, und wenn es uns erlaubt wird, gehen wir draußen auf dem Gelände des Prüfungszentrums spazieren. Wir unterhalten uns gerade über zu Hause, als mir Tomas ins Ohr flüstert, er glaube, er habe einen Weg gefunden, wie wir unsere Erinnerungen bewahren können. Während er im Krankenhaus lag, habe er mit angehört, wie seine Ärzte mit einem Prüfer über die Medikamente sprachen, die ihm und einigen anderen verwundeten Kandidaten verabreicht wurden. Der Offizielle war besorgt, weil bekannt geworden war, dass diese Arzneien bei den bevorstehenden Testverfahren Probleme bereiten könnten. Er beharrte darauf, dass Tomas und die übrigen Kandidaten streng überwacht würden, damit ihre Körper keine Spuren der Wirkstoffe mehr in sich trügen, sobald die endgültige Auswahl für die Universität getroffen werden sollte.
»Sie haben gedacht, ich würde schlafen. Als die Krankenschwester mir das nächste Mal meine Pillen brachte, habe ich nur so getan, als würde ich sie alle schlucken. Stattdessen habe ich eine davon aufgehoben. Ich werde während der nächsten Behandlung versuchen, noch eine abzuzweigen. Einige der Schwestern lassen sich leichter ablenken als andere. Es wird also davon abhängen, an wen ich gerate.«
Mich überrascht es nicht, dass Tomas mit seinem Grübchen-Lächeln und den klaren grauen Augen manche Krankenschwestern von ihrer Arbeit ablenkt. Für mich sind seine Küsse ebenfalls eine wunderbare Zerstreuung. Im Laufe der nächsten zwei Tage fügt Tomas seinem Vorrat noch eine Tablette hinzu, und fünf weitere Kandidaten überqueren die weiße Ziellinie. Jedes Mal, wenn ein Neuankömmling den Speisesaal betritt, schlägt mein Herz schneller. Ich hoffe so sehr, dass die letzte Kandidatin aus Five Lakes es zurück nach Tosu-Stadt schafft. Aber jedes Mal ist es nicht Zandris Gesicht, das in der Tür auftaucht. Und als während des Abendessens eine Durchsage erfolgt, die uns mitteilt, dass am nächsten Tag die Gespräche beginnen würden, weiß ich, dass sie nicht mehr kommen wird.
In dieser Nacht gesellt sich Zandri zu den anderen, die mich in meinen Träumen heimsuchen. Ihr blondes Haar ist auf dem rissigen braunen Erdboden ausgebreitet, und ihr Mund steht vor Überraschung offen, während die Vögel sich an ihren Augen weiden.
Ich fahre aus dem Schlaf hoch und versuche, einen Schrei zu unterdrücken. Ich brauche mehrere Minuten, ehe ich mich daran erinnere, dass ich im Prüfungszentrum bin und nicht mehr länger
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