Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
eine kleine Kabine, die sich als Toilettenraum erweist.
Wir nehmen uns jeder eine Tüte mit getrockneten Früchten und etwas Wasser und strecken uns auf den hinteren Sitzen aus. Tomas dreht ein Apfelstück in seinen kräftigen, schwieligen Händen und sagt: »Kaum zu glauben, dass sie in diesem Jahr vier von uns für die Auslese ausgewählt haben.« Mein Blick fällt auf die Gravur auf seinem Armband: ein Stern mit acht Spitzen, in dessen Mitte drei waagerechte Schlangenlinien zu erkennen sind. Meine Gruppe. Anscheinend sind mir meine Überraschung und innere Unruhe anzusehen, denn Tomas fragt, was los sei. Ich erkläre ihm die Sache mit den Identifikationssymbolen. Da Malachi und Zandri beide vor sich hin schnarchen, entscheide ich mich, ganz offen und ehrlich zu Tomas zu sein. »Du wirst jeden anderen in der Gruppe mühelos ausstechen. Mich ebenfalls.«
»Machst du Witze?« Ein Blick aus Tomas’ klaren grauen Augen huscht über mein Gesicht. Dann lacht er und schüttelt den Kopf. »Du meinst das anscheinend wirklich ernst.«
»Jeder weiß, dass du der Beste in unserer Klasse warst.«
»Nur, weil unsere Lehrerin im Jahr davor noch nicht da war. Sie wusste nicht, dass du die Wind- und Solargeneratoren gebaut hast, die wir in der Schule benutzen.«
»Meine Brüder haben mir dabei geholfen.« Es war nicht allein mein Verdienst. Ohne meine Geschwister hätte ich es nicht geschafft. »Mein Vater sagt, das Bewässerungssystem, das du entworfen hast, wird dazu beitragen, unsere Grenzgebiete urbar zu machen. Das ist eine wirklich große Sache.«
Tomas zuckt mit den Schultern. »Mein Vater hat jahrelang daran gearbeitet. Ich habe nur ein paar Ideen beigesteuert und das ganze Ding zum Laufen gebracht. Ich will nicht sagen, dass ich entbehrlich gewesen wäre, aber ich bin nicht das Genie, als das mich Miss Jorghen dargestellt hat. Ich hatte den Eindruck, sie ist zunächst davon ausgegangen, dass die Schüler in Five Lakes allesamt beschränkt wären. Du weißt schon, weil in den letzten Jahren nie jemand für die Prüfung ausgewählt worden ist. Deshalb hat mein Referat über das Bewässerungssystem gleich in der ersten Woche Eindruck bei ihr hinterlassen.«
Tomas hat recht damit, dass unsere Lehrerin voreingenommen in die Five-Lakes-Kolonie gekommen ist. Die ersten paar Tage im neuen Schuljahr sprach sie mit uns, als wären wir eine Gruppe von Vierjährigen. Dann ließ sie uns einen Aufsatz schreiben: »Wie ich meine Pause verbringe«, und schlagartig wurde alles anders. Miss Jorghen ließ sich ihre Verblüffung zwar nicht anmerken, aber die Aufgaben, die wir fortan zu erledigen hatten, wurden zunehmend schwieriger, und sie hörte auf, vorwiegend einsilbige Wörter zu verwenden. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, frage ich mich, ob die Annahme meines Vaters richtig ist. Vielleicht hat unsere alte Lehrerin ja tatsächlich versucht, das Commonwealth glauben zu machen, dass wir in Five Lakes nicht schlau genug seien, um als zukünftige Anführer infrage zu kommen. Und falls das so war, stellt sich die Frage, was sie zu dieser Täuschung veranlasst hat. Hasste sie die Vorstellung, dass Familien auseinandergerissen würden, oder glaubte sie wirklich, dass uns am Ende unserer Reise etwas Dunkles erwarte?
»Was ist los?«
Ich blinzle. »Was soll denn sein?« Seine hochgezogene linke Augenbraue verrät mir, dass meine vorgespielte Unschuld nicht sehr überzeugend ist. Also frage ich ihn: »Findest du es nicht seltsam, dass Five Lakes zehn Jahre lang keinen einzigen Kandidaten für die Auslese gestellt hat?«
Tomas wirft sich eine Rosine in den Mund und denkt über meine Frage nach. »Die einzige Erklärung, die mir einfällt, ist die, dass die Regierung des Commonwealth bislang der Meinung war, unsere Kolonie sei zu dünn besiedelt, um Bewohner abzuziehen. Five Lakes ist erst in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen.«
Im Laufe dieser Zeit sind rund dreihundertfünfzig Menschen nach Five Lakes gekommen. Das jedoch ist nicht sonderlich beeindruckend, wenn man bedenkt, dass andere Kolonien Zehntausende Einwohner haben.
»Du glaubst, dass es noch einen anderen Grund gibt?«
Ich will ihm vom Verdacht meines Vaters erzählen und die Last, die auf meine Schultern drückt, mit ihm teilen. Wie gerne hätte ich die Gewissheit, dass noch ein weiteres Augenpaar nach Gefahr Ausschau hält. Aber die Abschiedsworte meines Vaters hallen noch in meinen Ohren. Wenn ich mit Tomas ganz allein wäre, würde ich die Warnung vielleicht
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