Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
in den Wind schlagen, aber wir sind ja nicht unter uns. Deshalb sage ich: »Ich denke schon. Was meinst du?«
»Wenn du einen anderen Grund herausfindest, lass es mich bitte wissen, damit ich meinen Bruder trösten kann. Er fühlt sich zurückgesetzt, weil ich – im Gegensatz zu ihm – ausgewählt worden bin.«
»Das kenne ich. Zeen ist auch traurig.«
Tomas lächelt mich an, und sein Grübchen vertieft sich.
Während der nächsten Stunde sprechen wir über unsere Freunde, unsere Familien, die Dinge in Five Lakes, die wir vermissen werden, und was wir alles zu erreichen hoffen, wenn wir es an die Universität schaffen. Ich bin überrascht zu hören, dass er sich, wie mein Vater, der Rückgewinnung von Land widmen will. Ich hätte gedacht, dass ihm etwas Glamouröseres vorschweben würde. Auf der anderen Seite hätte ich vielleicht gar nicht so verwundert sein sollen. Trotz seines guten Aussehens und seiner aufgeschlossenen Art hat sich Tomas nie in den Mittelpunkt gedrängt. Er ist zufrieden, wenn er einem Nachbarn oder einem jüngeren Schüler helfen kann, und ihm ist anzumerken, dass ihm weder an Lob noch an Bezahlung dafür gelegen ist. Mein Vater wäre stolz, jemanden wie ihn in seinem Team zu haben.
Wir klauben die letzten Reste aus der Tüte mit dem getrockneten Obst, und trotzdem sind wir beide noch hungrig. Tomas greift nach einer Schachtel mit Crackern und will sie gerade öffnen, als Michal ruft: »Wir werden in ein paar Minuten anhalten, um zu Mittag zu essen. Wollt ihr nicht eure Freunde wecken?«
Das brauchen wir allerdings gar nicht. Michals Stimme war laut genug, um uns die Arbeit abzunehmen.
Während Zandri und Malachi sich strecken und versuchen, wieder richtig wach zu werden, frage ich mich, woher Michal wusste, dass Tomas sich gerade an den Crackern bedienen wollte. Es kann einfach kein Zufall sein, dass er genau den richtigen Augenblick abgepasst hat. Tomas scheint sich überhaupt nichts dabei zu denken. Er verstaut die Schachtel einfach wieder im Schrank und geht zurück zu den anderen, um noch ein wenig mit ihnen zu plaudern. Aber er hat auch mit dem Rücken zum Abteil des Fahrzeuglenkers gestanden. Vermutlich denkt er, dass Michal sich umgedreht und gesehen hat, wie er die Cracker herausnahm. Ich hingegen weiß, dass es so nicht gewesen ist. Michals Kopf hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt. Wie also ist er darauf gekommen?
Da ist es. In der Ecke der Kabine entdecke ich ein rundes schimmerndes Glas. Eine Kameralinse? Ich suche mit den Augen den Rest des Passagierraumes ab, kann aber keine anderen entdecken, und das bestärkt mich in meiner Vermutung.
Wir werden beobachtet. Von Michal? Oder überträgt diese Kamera die Bilder noch viel weiter? Hat die Auslese schon begonnen? Beim Gedanken daran, dass mein Gesicht gerade ohne mein Wissen über einen Fernsehbildschirm flackert, läuft mir ein Schauder über den Rücken. In Five Lakes haben wir für Fernsehapparate nicht viel Verwendung. Die Magistratin besitzt einen. Auch mein Vater hat ein Gerät bei der Arbeit, ebenso einige andere ausgewählte Stellen. Nur selten werden sie eingeschaltet. Außerhalb meiner Kolonie werden sie augenscheinlich nicht ganz so spärlich eingesetzt.
Als ich mich in den vorderen Teil der Kabine begebe, spüre ich, wie die Kamera jede meiner Bewegungen verfolgt. Zeichnet sie auch meine Worte auf? Wenn ich die Gelegenheit bekäme, die Kamera einer genaueren Prüfung zu unterziehen, würde ich eine Antwort auf diese Frage bekommen. Aber ich wage es nicht, sie unter die Lupe zu nehmen. Ich beschließe, auf Nummer sicher zu gehen und anzunehmen, dass alles, was ich sage, aufgezeichnet wird. Angestrengt starre ich aus dem Fenster und versuche so, diejenigen, die mich gerade beobachten, nicht merken zu lassen, dass ich eine Entdeckung gemacht habe.
Die braune, zerklüftete Landschaft, über die wir hinweggleiten, geht in gesünderes, grüneres Gelände über. Aus einigen Metern Höhe sehe ich, dass der Erdboden fruchtbarer ist. Schwärzer. Es gibt Anzeichen dafür, dass er sich wieder zu erholen beginnt. Die Arbeit einer anderen Kolonie. Ich laufe durch die Kabine ganz nach vorn und bleibe dann hinter der Führerkabine stehen. Tatsächlich. Weiter weg am Horizont sind Gebäude zu erkennen. Einige von ihnen sind hoch, viel höher als die zu Hause. Ich grübele, welche Kolonie das sein mag, und merke erst kurz darauf, dass ich die Frage wohl laut gestellt habe, denn Michal antwortet: »Das ist die
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