Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
beobachten und daraus seine Schlüsse zu ziehen, oder hat mir Michal einen Vorteil verschafft?
Er öffnet einen Wandschrank und kehrt mit einem Teller voller Kekse zurück. Sie sehen aus wie das Gebäck, mit dem mich meine Mutter am Tag meiner Abschlussfeier verwöhnt hat. Die Erinnerung an mein Zuhause steigt in mir auf und zerrt an meinem Herzen. Die anderen bedienen sich eifrig an der unverhofften Leckerei. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und frage, ob ich einen kurzen Spaziergang machen dürfe. »Ich verspreche auch, dass ich in Sichtweite bleibe. Ich will mir nur ein bisschen die Beine vertreten, ehe es wieder zurück in den Gleiter geht.«
»Wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte.« Michal wirft einen Blick auf seine Uhr. »Wir haben noch dreißig Minuten, ehe wir wieder aufbrechen müssen. Will sonst noch jemand nach draußen?«
Als niemand weiter aufsteht, schnappe ich mir einen Keks vom Tisch, gehe zur Tür und trete hinaus ins Sonnenlicht. Die Luft ist warm und angenehm. Doch noch besser ist das Gefühl, frei zu sein. Keine Kameras. Keine Beurteilungen. Keine Angst davor, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, was am Ende dazu führen könnte, dass ich bei der Auslese versage. Da ich weiß, was vor mir liegt, nehme ich mir vor, diesen letzten unbekümmerten Moment zu genießen. Ich will die ganze Süße dieses Augenblicks in mich aufsaugen, um in den kommenden Wochen Ruhe und Kraft daraus zu schöpfen.
Zu meiner Rechten erblicke ich ein kleines Wäldchen mit immergrünen Bäumen und steuere darauf zu. Die hohen Gräser streifen meine Hüften, als ich durch die üppige Vegetation stapfe. Genussvoll verspeise ich im Laufen den krümligen, mit Zucker bestreuten Keks, den ich mitgenommen habe. Je weiter ich mich von der Hütte entferne, desto enger stehen die Bäume beisammen.
»Cia, warte auf mich.«
Ich drehe mich um und blinzle im strahlenden Sonnenlicht, dann schirme ich meine Augen mit den Händen ab. Ich bin überrascht, als ich sehe, wie weit ich in dieser kurzen Zeit gekommen bin. Das Holzgebäude, das uns fürs Mittagessen beherbergt, ist inzwischen mindestens hundert Meter entfernt. Tomas, der mir durch das hohe Unterholz hinterherkommt, hat mich trotzdem beinahe eingeholt. Allein die Vorstellung, meine letzten paar Minuten in unbeobachteter Freiheit mit jemandem teilen zu müssen, führt mich in Versuchung, Tomas zuzurufen, er solle wieder umdrehen und mich in Ruhe lassen. Allerdings sind es auch seine letzten freien Augenblicke, selbst wenn er das jetzt noch nicht weiß. Ich bringe es nicht übers Herz, ihm diese Momente zu nehmen.
Also warte ich, bis er bei mir angekommen ist, ehe ich meinen Weg fortsetze.
»Wohin gehen wir?« Seine Frage klingt ein bisschen atemlos.
»Nur bis zu diesen Bäumen da.« Die nächsten Minuten laufen wir schweigend nebeneinander her, dann setzen wir uns auf den überschatteten, kühlen Boden. »Du solltest vorsichtiger sein, sonst wird Zandri noch eifersüchtig. Sie hat ein Auge auf dich geworfen.« Ich will ihn aufziehen, aber ein Körnchen Wahrheit liegt schon in meinen Worten. Jedes Mal, wenn Zandri ihr goldblondes Haar zurückwirft oder mit ihren langen Wimpern klimpert, will sie damit Tomas’ Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Bislang scheint er darauf nicht anzuspringen, aber ich bin mir nicht sicher, wie ich es fände, wenn es irgendwann anders werden würde.
»Sie ist mir egal. Aber um dich mache ich mir Sorgen.« Er streichelt meinen Arm, und mir läuft ein Schauder über den Rücken.
»Warum?«
»Ich sehe, wie du die Lippen aufeinanderpresst und den sorgenvollen Ausdruck in deinen Augen. Dein Gesicht ist mir so vertraut, Cia. Ich sehe es dir an, wenn etwas nicht stimmt.«
Ich zucke mit den Achseln und versuche, ihn abzulenken. »Wir haben uns gerade von unseren Familien und Freunden verabschiedet, und vielleicht werden wir sie niemals wiedersehen.«
»Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du mit deinen Gedanken bei deinen Freunden und deiner Familie bist. Oder wenn du dich anstrengst, um eine Frage richtig zu beantworten. Irgendetwas ist diesmal anders.« Er legt seine Hand auf meine und drückt sie leicht. »Zu Hause war ich vielleicht nicht dein bester Freund, aber du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst.«
Kann ich das?
Mein Herz macht einen Satz, und ich weiche seinem prüfenden Blick aus. Stattdessen schaue ich zurück zum Gleiter und zur Holzhütte, wo die Kameras auf uns warten. Ich kenne Tomas schon mein ganzes Leben lang. Wir haben
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