Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
Wenn man mir vorher mein Quartier zeigt, verlässt mich vielleicht der Mut, und ich komme überhaupt nicht mehr heraus. Zandri scheint Einwände erheben zu wollen, doch als Tomas sich mir anschließt, ist die Sache entschieden. Michal nickt mir kaum merklich zu, geht uns voran einen Gang hinunter und bringt uns durch eine Tür in die große Halle, die wir durch das Glas bereits gesehen haben.
Ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde: Als wir reinkommen, wird es still im Raum. Alle Blicke wenden sich uns zu und mustern prüfend unsere Gesichter. Schätzen uns als Konkurrenten ab. Dann setzen alle ihr Geplauder fort und essen weiter.
Auf der linken Seite der Halle ist ein Büfetttisch aufgebaut, auf dem sich Speisen türmen. Drei Serviererinnen warten dahinter, als hielten sie sich zur Verfügung, um einzelne Gerichte zu erläutern. Es gibt verschiedene Sorten Brot. Äpfel, Orangen und Weintrauben. Einen roten Eintopf mit viel Gemüse und Rindfleisch. Karotten und winzige Zwiebeln in einer leichten Soße sowie dicke Scheiben einer Fischart, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Michal erklärt mir, dass es sich dabei um Lachs handelt. Ein Extratisch ist mit Kuchen und anderen Süßspeisen beladen.
»Hol dir einen Teller und iss, so viel du willst.« Als ob er es mir vormachen will, befolgt er seinen eigenen Rat.
Wir vier nehmen uns je einen Teller und stellen uns unsere Mahlzeit zusammen. Ich suche mir ein Brötchen mit Rosinen und Nüssen aus, ein kleines Stück Lachs, einen Apfel und einige Karotten. Nur so viel, wie ich auch wirklich essen kann. Allerdings sehe ich, dass nicht alle Kandidaten diese Regel befolgen. Viele von ihnen haben mehr als einen Teller vor sich stehen, auf denen sich die Speisen häufen. Einige der Prüflinge nehmen eine Gabelvoll von irgendeinem Gericht und schieben den Rest des Bissens dann fort, weil sie glauben, etwas Schmackhafteres entdeckt zu haben. Mein Vater hat mir beigebracht, die Nahrung, die wir anbauen, zu respektieren, ebenso unsere Nachbarn, mit denen wir die Quellen teilen. Mir vergeht der Appetit, als ich sehe, wie hier mäkelnd etwas verschwendet wird, dessen Entwicklung, Anbau und Ernte uns viele Jahre gekostet hat.
Der Tisch, der uns am nächsten steht, ist bereits mit Kandidaten voll besetzt. Sie alle starren uns nach, als wir den Gang hinuntergehen, um uns an einem freien Tisch weiter hinten niederzulassen. Ich stelle meinen Teller ab und sehe gerade noch, wie ein großer Bursche mit struppigem Haar und niederträchtigen Augen unmittelbar vor Malachi sein Bein ausstreckt. Malachi fällt der Teller aus der Hand, der scheppernd auf dem Boden zerbricht. Wenn Tomas nicht so schnell reagiert und ihn festgehalten hätte, wäre Malachi mit dem Gesicht voran in seinem Eintopf gelandet. Trotz seiner dunklen Haut kann ich sehen, wie seine Wangen vor Verlegenheit glühen. Er murmelt eine Entschuldigung und macht sich daran, die Scherben aufzusammeln, aber Michal hält ihn davon ab. »Das war nicht dein Fehler.« Sein Blick wandert vielsagend zu dem struppigen Jungen, der nun sehr beschäftigt damit tut, Kuchen in seinen zum höhnischen Grinsen verzerrten Mund zu schieben. »Warum nimmst du nicht einfach meinen Teller, während ich jemanden suche, der hier sauber macht?«
Malachi nimmt den Teller, der ihm entgegengestreckt wird, und lässt sich mit gesenktem Blick auf einem Stuhl nieder. Seine Scham darüber, eine solch peinliche Szene verursacht zu haben, ist beinahe greifbar, und ich spüre, wie sich meine Hände zu Fäusten ballen. Heißer Zorn bringt mein Blut in Wallung. Zu Hause sind wir immer dazu angehalten worden, unsere Probleme mit Worten zu lösen. Aber ich habe vier ältere Brüder. Wenn mich jemand herumschubsen will, kann ich mich zur Wehr setzen. Und jetzt bin ich drauf und dran, mich auf eine körperliche Auseinandersetzung einzulassen.
»Cia, dein Essen wird ja kalt.« Tomas’ Stimme dringt durch meine Wut hindurch. Seine sanften Worte sind eine Warnung für mich. Wir werden beobachtet. Jede Bewegung zählt. Kämpfen kann ich später auch noch.
Ich spüre, wie sich mein aufgestauter Zorn wieder legt, während ich mich mit meinen Mitstreitern aus Five Lakes hinsetze und nach meiner Gabel greife. Tomas stößt Malachi an und flüstert ihm etwas ins Ohr. Was auch immer er gesagt hat, weckt Malachi aus seiner Schockstarre. Auch er nimmt seine Gabel und beginnt damit, sich Essen in den Mund zu schaufeln. Michal kommt mit einem neuen Teller zurück und sorgt
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