Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
Kamera.
Ich versuche, bei dieser Entdeckung keine Miene zu verziehen. Ich weiß nicht, warum es mich überraschen sollte, dass uns eine Kamera dabei beobachtet, wie wir den alltäglichsten Tätigkeiten nachgehen, schlafen oder uns ankleiden. Und doch bin ich verblüfft. Wird nur dieser Raum überwacht? Weil ich es war, die Ryme gefunden hat? Sofort verwerfe ich diese Möglichkeit. Wenn ein Zimmer mit einer Kamera ausgestattet ist, dann wird das bei den anderen nicht anders sein. Es verschlägt mir den Atem, als ich begreife, was das heißt: Wenn jedes Zimmer mittels einer Kamera unter Beobachtung steht, dann hat auch jemand dabei zugesehen, wie Ryme ihr Laken vom Bett abgezogen hat. Wie sie ihr Kleid daran festgeknotet hat. Wie sie das Lichtkabel an der Decke nach dem besten Platz abgesucht hat, um das Seil zu befestigen. Wie sie auf einen Stuhl geklettert ist und einen Schritt nach vorn gemacht hat. Man hat ihr dabei zugeschaut, wie sie hilflos gegen das Seil ankämpfte und verzweifelt versuchte, ihren Hals mit den Händen aus der Schlinge zu befreien. Und auch, wie ihr Körper schließlich schlaff wurde.
Sie hätten sie retten können.
Stattdessen haben sie sie sterben lassen.
Ich zwinge mich dazu, ruhig zu wirken, als ich zum Lichtschalter hinübergehe, ihn betätige und so den Raum in Dunkelheit versetze. Wer auch immer mich überwacht, soll nicht sehen, welches Entsetzen ich empfinde. Ich vergrabe meinen Kopf unter der Decke und presse aus alter Gewohnheit meine Tasche an meine Brust. Und die ganze Zeit über frage ich mich, ob die Menschen auf der anderen Seite der Kamera Rymes Tod ebenfalls wieder und wieder erleben werden, wenn sie heute Nacht schlafen gehen. Es mag boshaft von mir sein, aber ich hoffe, dass es so ist, denn genau das geschieht mir, bevor ich endlich einschlafe.
Rymes fleckiges rotes Gesicht und ihre glasigen, blutunterlaufenen Augen verfolgen mich bis in meine Träume. Ihre Stimme macht sich über meine Unzulänglichkeiten lustig. Sie bietet mir ihre Getreidekekse an, und dieses Mal nehme ich einen und esse ihn. Jedes Mal, wenn ich aufwache, zwinge ich mich dazu, ruhig liegen zu bleiben. Nicht aufzuschreien und mich auch nicht hin und her zu werfen. Ich lasse meinen Kopf unter der Decke, falls die Kamera mehr sehen kann, als ich vermute, und ich gebe mir alle Mühe, meinen Geist von den quälenden Gedanken zu befreien, ehe ich wieder einschlafe.
Als die morgendliche Ansage ertönt, bin ich dankbar, dass ich endlich unter meinem Bettzeug hervorkommen kann. Als Erstes gehe ich ins Badezimmer und betrachte mich im Spiegel. Müde sehe ich aus, aber auch nicht mitgenommener als gestern Morgen. Das werte ich als ein gutes Zeichen, schlüpfe in meine üblichen Sachen und bürste mir die Haare, während ich das Badezimmer nach Kameralinsen absuche. Es gibt keine, jedenfalls keine, die ich sehen kann. Für unsere Hygienegewohnheiten scheinen die Prüfer sich nicht zu interessieren. Ich lasse mir meine Haare offen auf die Schultern fallen und hoffe, dass das von der Erschöpfung in meinen Augen ablenkt; dann schnappe ich mir meine Tasche und mache mich auf den Weg zum Frühstück.
Tomas und die Zwillinge sitzen bereits dort, als ich eintreffe. Auf Tomas’ Gesicht breitet sich tiefe Erleichterung aus, und er schließt mich fest in seine Arme, bevor es mir gelingt, mich hinzusetzen. Als ich dann Platz genommen habe, blickt Tomas geraume Zeit auf meinen Teller. In meinem Bemühen, völlig normal zu wirken, habe ich mir Schinkenspeck, Eier, Tomatenscheiben, Früchte und süße Brötchen aufgetan. Sofort schiebe ich mir ein Stück Speck in den Mund, damit niemand auf die Idee kommt, ich könnte Fragen zum gestrigen Tag beantworten. Das geht so lange gut, bis Zandri, Malachi und ihre Zimmerkameraden zu uns stoßen. Als alle sitzen, fragt Tomas: »Ist alles in Ordnung? Wir haben gestern Abend darauf gewartet, dass du zurückkommst.«
Sie warten auf eine Erklärung. Ich gehe Dr. Barnes’ Worte in Gedanken noch einmal durch. Hat er mir gesagt, ich solle die Sache für mich behalten? Ich glaube nicht, daher antworte ich äußerlich gefasst: »Ryme ist tot. Sie hat sich gestern Abend umgebracht.«
Die Kandidaten aus Five Lakes sehen in unterschiedlichem Ausmaß ungläubig aus. Die Zwillinge seufzen und werfen einander wissende Blicke zu. Nach einem kurzen Moment sagt Will: »Wir haben uns schon gedacht, dass es um etwas in der Art geht. Unser Lehrer hat uns vor dem Druck gewarnt. Er war ein paar Jahre
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