Die Außenseiter
Anbetracht der Tatsache, wie abgeschieden die Kolonie innerhalb des gewaltigen, beschützten Regenwaldes lag, war dies zwar äußerst unwahrscheinlich, doch musste man jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme treffen, um den Komplex geheim zu halten.
Niemand hielt ihn auf oder grüßte ihn, als er in Richtung Westen durch den Stock eilte. Einer der Vorteile, in der Nahrungszubereitung zu arbeiten, bestand darin, dass man kaum Thranx-Arbeiter aus anderen Abteilungen kennen lernte, und Des hatte seit seiner Ankunft bewusst die Gesellschaft abteilungsfremder Thranx gemieden. Jhywinhuran bildete diesbezüglich die einzige Ausnahme. Er versuchte nicht daran zu denken, wie sie reagieren würde, wenn er seine wahre Identität offenbarte. Sie anzusehen, ihr perfektes v-förmiges Gesicht, ihre goldenen Augen, die von einem inneren Leuchten erfüllt zu sein schienen, die elegant sinnlichen Bewegungen ihrer Legeröhren und ihr im matten Licht glänzendes blaugrünes Ektoskelett - all das zu sehen bereitete ihm Unbehagen. Er verbannte ihren Anblick aus seinen Gedanken. Ein Dichter, der der Inspiration nachjagte, durfte nicht im Balsam wohltuender Erinnerungen schwelgen.
Während er aus dem geschäftigen Teil der Kolonie in die Wartungszonen vordrang, begegnete er immer weniger Thranx. Hier erledigten hauptsächlich Maschinen die anfallende Arbeit, Maschinen mit leisen oder schallisolierten Motoren, die möglichst wenig Vibrationen oder andere Impulse erzeugten. Man hatte jede erdenkliche elektronische Decke über die Kolonie ausgebreitet, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen.
Doch abgesehen von aus dem Orbit importierten Grundnahrungsmitteln und Wasser aus den kolonieeigenen Quellen musste die Kolonie mit noch etwas Lebenswichtigem versorgt werden: Luft.
Gefiltert und gereinigt, wurde die Atemluft aus der fremden Atmosphäre in den Stock geleitet, mit einer Reihe von Vakuumpumpen, die alles andere als leise waren. Gering im Durchmesser und wie Baumstümpfe getarnt, standen sie überall im Regenwald, unauffällig, unbeweglich. Als Desvendapur durch eine Bedienungs- und Wartungsluke in die Pumpe kletterte, die er sich ausgesucht hatte, musste er gegen den Sog ankämpfen, der ihn nach unten zog. Wenn er den Halt verlöre, würde er, hilflos mit Armen und Beinen wedelnd, den Schacht hinunterstürzen, aus dem er sich nicht wieder würde befreien können. Wenn er Glück hätte, würde jemand die verringerte Pumpleistung bemerken und nachsehen, ob etwas die Lüftungsgitter verstopfte. Falls nicht, würde er dort unten liegen, bis ihm die Vorräte ausgingen und er - trotz der biologischen Inhibitoren - verfaulen würde.
Mit allen vier Beinen, beiden Fuß- und beiden Echthänden hielt er sich an der Außenseite des senkrecht in die Höhe führenden zylindrischen Schachts fest und schwang sich durch die Luke, woraufhin er sie vorsichtig mit den Echthänden hinter sich schloss. Obwohl er alle acht Glieder gegen die runde, dunkle Innenwand des Schachts stemmte, der aus einem Verbundstoff bestand, war es sehr anstrengend, gegen den starken Abwärtssog anzukämpfen. Die ungefilterte Luft, die in den Stock gesogen wurde, barg unzählige fremde Gerüche, die ihn zu überwältigen drohten. Dennoch kletterte er entschlossen weiter nach oben. Wie erwartet, war die Luft kühler als ihm lieb war, aber wenigstens schön feucht. Er würde vielleicht frieren, aber nicht austrocknen.
Einmal rutschte er mit einem Hinterbein ab und lief Gefahr, den Schacht hinunterzustürzen. Er versteifte die übrigen Beine, um den fehlenden Halt auszugleichen, presste das abgerutschte Glied rasch wieder gegen die Schachtwand und setzte seinen Aufstieg fort. Der Vorratssack, den er sich auf den Abdomen geschnallt hatte, fühlte sich an, als sei er nicht mit Lebensmitteln, Medikamenten und seiner Überlebensausrüstung gefüllt, sondern mit Barren aus rohem Eisen. Bei jedem Aufwärtsschritt scheuerte sein Thorax schmerzhaft an sein oberes Abdomensegment. Wenn der Chitinpanzer bräche und der Riss groß genug wäre, würde sein halb offenes Kreislaufsystem nicht mehr funktionieren, und dann würde er zweifellos verbluten, ehe er die Oberfläche überhaupt erreicht hätte.
Obgleich er das obere Schachtende stets im Blick hatte, schien es unendlich weit weg zu sein. Er beschloss, nicht mehr hinaufzuschauen. Der Anblick war zu entmutigend. Das Zittern in seinen Beinen verriet ihm, dass er den Grenzpunkt, an dem er noch zurückklettern konnte, schon überschritten
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