Die außergewoehnlichen Geheimnisse von April, May & June
zurück wie Henry, der ebenfalls was von »âtschuldigung« murmelte.
Und nun ratet mal, was danach unsichtbar wurde?
Genau.
Ich stopfte meine nun nicht mehr vorhandene linke Hand in die Tasche meines Kapuzenpullovers und vergrub sie ganz tief darin, damit Henry nicht mitbekam, dass ich jetzt wie ein Pirat aussah â nur ohne Hakenhand. Ich lachte ein bisschen nervös rum. »Wow«, stammelte ich. »Das war aber â¦Â«
»Ja«, antwortete Henry und räusperte sich. »Also, Robespierre.«
»Wurde enthauptet«, sagte ich spontan. »Armer Kerl, so mit ânem fehlenden Körperteil.« Ich lehnte mich zurück und beschwor meine FüÃe inständig, dort zu bleiben, wo sie hingehörten.
Die nächsten zehn Minuten spürte ich, wie sie immer dann kurz vorm Verschwinden waren, wenn sich Henry nach vorn beugte, um etwas zu sagen oder nach dem Textmarker zu greifen. Das war wahrscheinlich die unproduktivste Nachhilfestunde, die die Welt je gesehen hatte. Er hätte mir auch die Grundrechenarten erklären können â wäre ähnlich sinnvoll gewesen. Ich konzentrierte mich fast ausschlieÃlich darauf, auf keinen Fall unsichtbar zu werden, und abgesehen von meiner Hand und den FüÃen klappte das auch ganz gut. Schade eigentlich, dass mentale Körperbeherrschung in der Schule nicht bewertet wird, denn darauf würde ich auf jeden Fall eine Eins mit Sternchen kriegen.
»Ist dir das so weit erst mal klar?«, erkundigte sich Henry nach einer Weile.
»Ja, wieso?«
»Na, weil du gar keine ironischen Bemerkungen mehr machst.«
Ich lächelte. »Nee, ist einfach so spannend. Fesselt mich total. Du erlebst gerade mein gefesseltes Ich.«
»Na wunderbar«, antwortete Henry. »Wird doch langsam.«
»Kling ich jetzt wieder wie eine von der Sorte?«
Und peng â weg waren meine FüÃe.
Ich schwör es, meinen Nacken hab ich früher noch nie bemerkt, aber jetzt wurde der offenbar auch gerade unsichtbar. Ich versuchte, nicht in Panik zu verfallen, und lieà mein Hirn auf Hochtouren laufen. »Ganz schön kalt hier«, lieà ich wie nebenbei fallen. »Kannst du mir vielleicht die Decke von der Sofalehne holen?«
Henry musterte mich verwundert. Er war in Jeans und T-Shirt. »Ãhm, also, drauÃen sind über 25 Grad.«
»Ja schon ⦠aber ich bin echt temperaturempfindlich.« Natürlich war mir nicht annähernd kalt, und die Vorstellung, mich in eine Decke zu wickeln, war eher grausam. June hatte völlig recht â wäre echt besser gewesen, wenn eine von uns (also ich) die Fähigkeit zu fliegen entwickelt hätte.
»Wie du meinst«, sagte Henry und brachte mir die Decke. »Hier. Du willst dir aber jetzt nicht mit Absicht ânen Hitzschlag züchten, damit du umkippst und die Nachhilfe damit abgehakt ist, oder?«
Ich nahm die Decke mit einer Hand entgegen und legte sie mir schnell über die Beine. »Ach, wennâs bloà ein Hitzschlag wäre«, sagte ich und merkte, wie mein FuÃgelenk entschwand.
Wer braucht schon ein FuÃgelenk?
»Also, nachdem â¦Â«, fuhr Henry fort, beugte sich vor und schob das Lehrbuch näher zu mir. Unwillkürlich wich ich ein Stück zurück, damit ich nicht überlastet wurde und mir auch noch die Nase abhanden kam. Er roch nämlich irgendwie gut, nach Herbstlaub oder so â¦Â«
»Igitt.«
Henry und ich schauten auf, weil June reinkam und mich mit einem angewiderten Blick bedachte.
Das alte Miststück hatte schon wieder meine Gedanken gelesen.
»June!«, sagte ich so laut, dass Henry ein bisschen zusammenzuckte. »Kann ich was für dich tun? Kleiner Gehirneingriff gefällig oder so?«
»Entspann dich, ich will nur was trinken. Hallo Henry«, fügte June hinzu und winkte in seine Richtung. »Na, wie läuftâs?«
»June!«, schrie ich sie fast an. »Das ist meine Nachhilfestunde und nicht deine. Trink was und verzieh dich.«
»Hallo June«, sagte Henry.
Wieso war er immer viel netter zu meinen Schwestern als zu mir? Als wir uns das erste Mal gesehen haben, hatte er nicht mal ein Hi für mich übrig!
»Kein Grund zur Eifersucht«, murmelte June, warf theatralisch ihre Haare über die Schulter und holte die Wasserfilter-Kanne aus dem Kühlschrank. Selbst beim WassereingieÃen muss sie sich in Szene setzen.
»Trolle bitte nicht
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