Die außergewoehnlichen Geheimnisse von April, May & June
niemals wieder aufhören davon zu schwärmen, dass mein Nachhilfefuzzi sie für wundervoll hielt. »Na ja, wahrscheinlich sind meine Schwestern schon ganz okay«, gab ich zu. »Aber als völlig normal gehen wir trotzdem nicht durch.«
Und wie zur Bestätigung ging gerade mein rechtes Knie flöten, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, über Henrys dämliche Schwester zu reden, als darauf zu achten, dass an mir alles am Platz bleibt. »Oh verdammt!«, fluchte ich, ohne nachzudenken, sodass Henry fast das Herz stehen blieb.
»Was, was ist denn los?« Er wirkte ernstlich besorgt.
»Ich ⦠ich findâs echt unglaublich, dass in der europäischen Geschichte so viel passiert ist, wovon ich keine Ahnung hab!«, log ich drauflos. Ich schlug mit der Hand auf meine linke Kniescheibe, um sie mit purer Willenskraft dort zu halten, wo sie hingehörte. Innerlich wurde ich von Zitteranfällen geschüttelt, sie durchfuhren mich wie die kleinen Kräuselwellen auf einem See. »Nehmen diese königlichen Stammbäume eigentlich gar kein Ende? Mach weiter, es gibt noch so viel zu lernen!«
So stand ich weitere zehn Minuten heldenhaft durch und hielt die Arme fest vor dem Oberkörper verschränkt, damit sich nicht auch noch mein Busen in Luft auflöste. (Nicht dass davon jemand was mitgekriegt hätte â er war auch vor diesem ganzen Blödsinn kaum der Rede wert.) Ich beobachtete, wie die Uhr an der Mikrowelle die zähen Minuten zählte, und versuchte mit gelegentlichem Nicken und Aha-Sagen die restliche Nachhilfestunde irgendwie zu überstehen.
Als die Uhr auf acht schnippte, stieà ich vor lauter Erleichterung einen tiefen Seufzer aus. »Was, schon acht?«, rief ich und fiel Henry ins Wort, der sich gerade über irgendeinen Vertrag auslieÃ. »Mann, bin ich fertig. Du nicht?«
Henry warf über die Schulter einen Blick auf die Uhr. »Wollen wir nicht einfach bis halb neun weitermachen?«
»Mir qualmt schon jetzt total der Schädel«, wehrte ich verzweifelt ab und fragte mich, ob ich wohl aussah wie ein Schweizer Käse mit lauter Löchern anstelle diverser Körperteile, wenn ich aufstand. »Mit heià gelaufenem Hirn kann ich nicht lernen. Ist vermutlich auch verboten.«
In diesem Moment klappte die Eingangstür. »Hallo!«, rief Mom. »Bin wieder da!«
»Oh Mist«, murmelte ich und schlug mir die verbliebene Hand vors Gesicht.
»Hallo, du bist bestimmt Henry«, sagte Mom, als sie mit klappernden Absätzen in die Küche kam. »Ich bin Mays Mutter.«
»Oh, hallo Mrs Stephenson. Nett, Sie kennenzulernen.« War ja klar, dass Henry voll der Muttiflüsterer war.
Vielleicht hab ich es mir ja nur eingebildet, aber es kam mir so vor, als ob Mom leicht verschnupft reagierte, als er sie mit Mrs Stephenson ansprach. Sie hatte nämlich nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen, was mich irgendwie gekränkt hatte, ich weià auch nicht wieso. Vielleicht fand ich es einfach nur schräg, dass meine Mutter jetzt einen anderen Nachnamen hatte als ich.
Aber langsam bekam ich ja Routine im Umgang mit schrägen Sachen.
»Henry wollte gerade zusammenpacken«, sagte ich laut und deutlich zu meiner Mom, »und sich auf den Weg machen.«
»Du bist ein Kämpfer, Henry«, sagte Mom grinsend zu ihm. »May ist in Geschichte wirklich keine Leuchte.«
»Ich finde die Gegenwart schon kompliziert genug«, verteidigte ich mich und merkte dann erst, wie treffend diese Worte waren.
»Schon okay«, sagte er. »Dann bis morgen in der Schule, oder?« Ich nickte. »Klar.«
Mom schaute zu mir herüber. »May«, sagte sie langsam, »es wäre nett, wenn du deinen Freund zur Tür bringen könntest, oder?« Sie zog eine Augenbraue hoch.
Ogottogott. Bisher war ich in meinem Leben von Panikattacken verschont geblieben, aber bekanntlich gibt es für alles ein erstes Mal.
Henry sah mich so erwartungsvoll an, dass seine Stirn schon ganz faltig war. Dann schüttelte er seufzend den Kopf und nahm seine Tasche. »Ich finde schon selbst raus, Mrs Stephenson.«
Als er weg war und die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, musterte mich Mom fragend. »Warum sitzt du denn da mit diesen ganzen Klamotten und Decken?«, erkundigte sie sich. »Frierst du etwa? Du wirst doch nicht krank werden?«
Sie streckte ihre Hand aus und wollte meine
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