Die Aussortierten (German Edition)
eine Stille, die de Wall etwas unangenehm empfand, weil er befürchtete, unabsichtlich an etwas gerührt zu haben, das ihr sehr weh tat.
Er durchbrach die Stille, indem er Effie Briest zur Hand nahm und sagte: „Fontane hat dies übrigens sehr schön in einem Dialog auf den Punkt gebracht. Als Baron von Instetten die Briefe des ehemaligen Liebhabers seiner Frau, Majo Crampas, entdeckt, bestellt er einen Kollegen aus dem Ministerium zu sich, um sich mit ihm zu beraten, was er tun soll. Wenn Sie mögen. Lese ich Ihnen diese Stelle mal vor. Sie ist nämlich wirklich schön geschrieben.“
„Gern!“, antwortete sie, schon wieder lächelnd.
De Wall erläuterte ihr, dass Wüllersdorf, der hier genannt wird, der Kollege aus dem Ministerium sei und las vor:
Wüllersdorf nickte. „Kann ganz folgen, Instetten, würde mir vielleicht ebenso gehen. Aber wenn Sie so zu der Sache stehen und mir sagen: ‚Ich liebe diese Frau so sehr, dass ich ihr alles verzeihen kann’; und wenn wir das andere hinzunehmen, dass alles weit, weit zurückliegt, wie ein Geschehnis auf einem anderen Stern – ja wenn es so liegt, Instetten, so frage ich, wozu die ganze Geschichte?“
„Weil es trotzdem sein muss. Ich habe mir’s hin und her überlegt. Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. Ging es, in Einsamkeit zu leben, so könnt ich es gehen lassen; ich trüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte Glück wäre hin, aber es müssen so viele leben ohne dies ‚rechte Glück’, und ich würde es auch müssen – und auch können. Man braucht nicht glücklich zu sein, am allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der einen das Glück genommen, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt existieren will, auch laufen lassen. Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas ausgebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns eine Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen solche Vorlesung halte, die schließlich doch nur sagt, was sich selber jeder hundertmal gesagt hat. Aber freilich, wer kann was neues sagen! Also noch einmal, nichts von Hass oder dergleichen, und um eines Glückes willen, das mir genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muss.“
„Es hat wirklich was. Sie haben mich wirklich neugierig gemacht.“
„Freut mich. Aber wenn ich Sie in dieser Hinsicht überzeugen konnte, dann sollten Sie unbedingt auch Frau Jenny Treibel lesen.“
So ging das Gespräch zwischen ihnen weiter, sie kamen zur Politik, und de Wall fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Sie sprachen gerade darüber, ob es überhaupt noch Sinn mache, sich politisch zu engagieren, als sie, wie um zu antworten, aufstand, ihren Koffer von der Ablage wuchtete, öffnete und nach irgendwas suchte. Als sie es gefunden hatte und sich grinsend wie ein Honigkuchenpferd, in den Händen ein Sweat-Shirt hochhaltend, so wie man einen gerade neu gekauften Pullover zeigt, wieder zu de Wall umdrehte, wurde de Wall leichenblass, und schlagartig wurde ihm leicht schwindelig, so als ob er plötzlich Kreislaufprobleme hätte.
„Was ist denn mit Ihnen los?“, fragte sie. „Geht’s Ihnen nicht gut?“
„Wir müssen etwas besprechen.“
Die junge Frau schien jetzt auch erschrocken und setzte sich. „Was ist los?“
Als sie de Wall den Pullover gezeigt hatte, war ihm schlagartig klar geworden, wen er vor sich hatte und warum ihm die Frau so bekannt vorkam, er sich aber an keine Begegnung erinnern und in seinem Gedächtnis kein Bild von ihr entdecken konnte. Er hatte das Gefühl gehabt sie zu kennen, weil die detaillierte und anschauliche Beschreibung des Verkäufers aus dem T-Shirt-Laden sich in seinem Unbewussten wiedergemeldet hatte. Der Pullover war ein blauer Kapuzenpulli mit der Aufschrift „Die Aussortierten“ auf dem Rücken. Sein Gegenüber war die junge Frau, die die T-Shirts im Laden abgeholt
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