Die Aussortierten (German Edition)
hatte. De Wall verfluchte innerlich seine Entscheidung, Bulle geworden zu sein. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass ihm etwas passiert war, was er schon lange vermisst hatte: Er fühlte sich in der Nähe dieser Frau nicht nur unglaublich wohl, sondern er hatte sich in diesen wenigen Minuten in sie verliebt. Und er war der leitende Ermittlungsbeamte, der gegen sie vorgehen musste! Entsetzen, Wut, Verzweiflung, Angst, Traurigkeit, alle diese Gefühle rauschten wie ein gespritzter Drogencocktail durch seinen Blutkreislauf. Was sollte er ihr bloß sagen? Wie sollte er die Situation geradebiegen? Wie konnte er es verhindern, ihr zu schaden? Was sagte der Bulle in ihm? Er fühlte sich wie ein Prüfling, dem eine Frage gestellt worden war, von der er genau wusste: Das kann ich nie beantworten. Damit ist es aus. Ich kann mir das Examen abschminken.
De Wall wollte etwas sagen, brachte aber nur „Ich, ich, ähm, ich...“ heraus.
„Was ist denn los? Nun reden Sie doch schon!“
De Wall gab sich einen Ruck, atmete tief durch und fing an zu reden. „Wir sind jetzt beide in einer unangenehmen Konstellation. Ich finde Sie ausgesprochen sympathisch und würde sie gerne wiedersehen, wenn wir wieder in Oldenburg sind.“
„Und was ist daran so schlimm?“, fragte sie nun schon mit leicht patzigem Unterton.
„Schlimm daran ist, dass ich der leitende Ermittlungsbeamte bin, der gegen Sie und Ihre Freunde ermitteln muss.“
„Das gibt’s doch nicht! Das kann doch nicht wahr sein! Wie kann es so dämliche Zufälle geben?“
„Das frage ich mich auch“, antwortete de Wall.
„Und?“, fragte sie in einem feindseligen Ton. „Wollen Sie mich jetzt verhaften?“
„Nein, alles, nur das nicht. Bitte hören Sie mir jetzt zu, was ich Ihnen zu sagen habe.“ De Wall hatte eine Entscheidung getroffen. Er wusste, dass er damit seine berufliche und bürgerliche Existenz ruinieren könnte. Dass er eigentlich viel zu viel riskierte. Besser wäre es wahrscheinlich gewesen, er hätte er ein Pokerface gemacht und sich nichts anmerken lassen. Aber spätestens dann, wenn sie ins Visier der Ermittlungen gekommen wäre, wäre es auch ans Tageslicht gekommen, dass er schon mit ihr Kontakt gehabt hatte. Denn wenn er plötzlich vor ihr gestanden hätte, dann hätte sie mit Sicherheit durch die Überraschung unwillkürlich ihre Bekanntschaft verraten. Selbst wenn sie es willentlich nicht gewollt hätte. Und auch dann wäre es aus gewesen mit seiner beruflichen Laufbahn. De Wall musste sich also entscheiden: Was ist wichtiger? Dass er sich die Sympathie dieser Frau erhielt, oder dass seine berufliche Laufbahn als Bulle, die ihm inhaltlich ohnehin nicht wirklich etwas bedeutete, möglicherweise abrupt beendet war. Und er eventuell sogar noch mit einem Strafverfahren rechnen musste. Er entschied sich für die Frau und hoffte darauf, dass seine Menschenkenntnis, auf die er sich schon so oft und nicht zu Unrecht verlassen hatte, ihn auch diesmal nicht im Stich lassen würde.
„Glauben Sie mir: Ich habe große Sympathie mit den Aktionen Ihrer Gruppe. Und wenn es nach mir ginge, würde ich auch nicht gegen sie ermitteln. Bisher hat meine Abteilung, zumindest offiziell, nichts oder wenigstens nichts Brauchbares gefunden, das uns auf Ihre Spur bringt. Dies hängt auch damit zusammen, dass ich, soweit es ging, auf die Bremse gedrückt habe und die Ermittlungen nicht mit Hochtouren liefen. Aber das ist inzwischen nahezu unmöglich, weil die Aufmerksamkeit, die Ihre Aktionen hervorgerufen haben, mittlerweile ein Ausmaß erreicht hat, dass es unmöglich sein wird, weiterhin auf die Bremse zu drücken. Ich bin da schließlich nicht autonom und großem Druck ausgesetzt. Deshalb werden wir über kurz oder lang Spuren finden, die ich nicht vertuschen kann. Ich möchte Ihnen deshalb einen Vorschlag machen: Überreden Sie um Gottes Willen ihre Freunde dazu, Ihre Aktionen einzustellen. Ab sofort und für immer. Dann kann das vielleicht irgendwie im Sande verlaufen. Schließlich gibt es in Oldenburg genügend andere Probleme mit Kriminalität, die wesentlich wichtiger sind. Wenn jetzt Ruhe ist und nichts mehr kommt, dann können wir wahrscheinlich die Akten dicht machen. Aber sie müssen unbedingt aufhören.“
„Und das soll ich Ihnen glauben? Ich habe bis eben gedacht, was für ein sympathischer Mensch sie seien. Und jetzt höre ich, Sie sind Bulle und gehören zu dem Repressionsapparat dieser beschissenen
Weitere Kostenlose Bücher