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Die Aussortierten (German Edition)

Die Aussortierten (German Edition)

Titel: Die Aussortierten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Brandes
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er sie nur einen kurzen Augenblick gesehen hätte. Oder erinnerte sie ihn vielleicht an eine andere Frau? Dann fiel ihm der Film ein, den er vor wenigen Tagen gesehen hatte, und jetzt wusste er, an wen ihn diese Frau erinnerte: An die italienische Schauspielerin Monica Belluci. Diese Frau hatte tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Monica Bellucci. Der Film neulich hatte ihm nicht gefallen, deshalb hatte er den Titel des Films auch schon wieder vergessen. Aber er konnte einfach nicht die Augen von Monica Belluci lassen. Und so erging es ihm auch bei dieser Frau. Sie faszinierte ihn auf Anhieb. De Wall hatte die Lust auf seine Fontane-Romane vollständig verloren. Er wollte diese Frau kennenlernen! Und sie machte es ihm zu seiner Freude ganz leicht.
     
    „Was lesen Sie da denn Schönes?“, fragte sie ihn, als sie sich setzte und ihr Blick auf die Bücher auf dem Sitz neben ihm fielen.
     
    Er zeigte ihr die Romane.
     
    „Effie Briest, das haben wir mal in der Schule gelesen. Aber so richtig gut zu lesen fand ich es ehrlich gesagt nicht.“
     
    „Sicher, man muss sich erst an die Sprache und den ganz anderen Rhythmus gewöhnen. Das ist eben ein Text aus dem 19. Jahrhundert. Für uns heute sehr langsam und bedächtig. Aber es lohnt sich.“
     
    „Es ist nicht nur die Sprache. Die Welt, die dort beschrieben wird, die hat wirklich nicht mehr viel mit unserer heutigen Welt zu tun.“
     
    „Oh, da irren Sie sich aber. Der Text ist durchaus zeitlos aktuell.“
     
    „Das verstehe ich nicht. Inwiefern?“
     
    „Weil in diesem Roman etwas sehr schön zum Ausdruck gebracht wird, was nach wie vor auch für uns gilt: Nämlich dass das Soziale in uns so stark ist, dass wir im Grunde gar keine freien Menschen sind. Dass unser Glaube, wir seien freie Menschen, ein Illusion ist.“
     
    „Na, ich weiß nicht, das kommt mir aber doch übertrieben vor. Also ich für meinen Teil fühle mich jedenfalls nicht abhängig vom gesellschaftlichen Mainstream. Ich mach das, was ich will, was ich für richtig halte.“
     
    „Und woher kommt das her, was Sie für richtig halten? War das genetisch in Ihnen programmiert? Haben Sie genetisch bedingt bestimmte politische Präferenzen oder Abneigungen? Nein, es hat mit ihrer gesellschaftlichen Herkunft, Position und Laufbahn zu tun. Und selbst wenn Sie sich dezidiert von der gesellschaftlichen Mehrheit abgrenzen: Ihr Bezugspunkt bleibt immer die Gesellschaft. Der berühmte Satz von Watzlawick über Kommunikation ‚Man kann nicht nicht kommunizieren’ kann man auch über Gesellschaft sagen: Man kann nicht nicht gesellschaftlich geprägt sein. Und im übrigen: Auch der Revolutionär ist oft viel angepasster, als er glaubt oder wahrhaben will. Ich sage das durchaus aus eigener, leidvoller Erfahrung.“
     
    „Aber jetzt muss ich doch mal protestieren. Ich halte mich schon für einen innerlich freien Menschen, nicht zuletzt deshalb, weil ich mich immer wieder reflektiere und hinterfrage, was ich tue oder denke.“
     
    „Und Sie haben noch nie Wünsche in sich entdeckt, die so ganz und gar nicht Ihrem Selbstideal entsprachen? Oder sozusagen nicht linientreue Gefühle?“
     
    „Eh, da fällt mir jedenfalls jetzt nichts ein.“
     
    „Gestatten Sie mir bitte eine Frage, die ich nicht stelle, um Ihnen zu nahe zu treten, sondern um Ihnen zu erklären, was ich meine.“
     
    „Nur zu.“
     
    „Haben Sie schon mal eine Diät gemacht?“
     
    „Ja.“
     
    „Und warum?“
     
    „Weil ich zu dick geworden bin.“
     
    „Und was war der Maßstab für dieses Urteil?“
     
    „Es sah einfach nicht mehr schön aus.“
     
    „Sie empfanden es so. Und warum? Weil in unserer Gesellschaft gertenschlanke Frauen als schön gelten. Und Sie haben dieses Schönheitsideal verinnerlicht. Weil Sie wie jeder Mensch die Anerkennung der Gesellschaft brauchen. Und wenn man Ihnen hundertmal sagen würde ‚Du bist nicht zu dick’, Sie würden sich doch immer wieder mit den Augen der Gesellschaft sehen und sich mit ein paar Kilo mehr als zu dick einstufen. Der Mensch ist eben in der Tiefe seiner Seele ein soziales Wesen. Er braucht die Zugehörigkeit und Anerkennung der Gesellschaft. Und in dieser Hinsicht ist er ein unfreies Wesen. Gefangener der gesellschaftlichen Normen seiner Zeit.“
     
    Als de Wall dies sagte, machte sie plötzlich einen etwas betroffenen, traurigen Eindruck, wischte sich mit dem Finger am linken Auge, als ob sie eine Träne wegwischen wollte. Es entstand einen Moment lang

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