Die Aussortierten (German Edition)
unglaublich, was diese Bürokratie mit Menschen macht. Als wären sie nicht schon genug gestraft, dass sie durch Hartz-4 vollkommen verarmen; sie entwürdigen und demütigen Arbeitslose auch noch systematisch. Ich schäme mich schon, Beamter zu sein.“
De Wall sah, dass Tauber wieder fast die Tränen in den Augen standen.
„Aber jetzt zur Sache. An dem Abend, als in der Muskatnuss die erste Aktion lief, bin ich nachts aufgestanden, weil ich nicht schlafen konnte. Ich bin nach draußen gegangen und hab im Vorgarten eine Zigarette geraucht. Und da konnte ich beobachten, wie vor dem Grundstück meines Nachbarn ein Auto hielt und der Sohn meines Nachbarn ausstieg – bekleidet mit einem blauen Kapuzenpulli und der Aufschrift ‚Die Aussortierten’ auf dem Rücken.“
„Jetzt verstehe ich,“ murmelte de Wall.
„Ich hab damals geglaubt, das wird eine einmalige Aktion sein. Ich konnte nicht ahnen, dass es so eskaliert und bundesweit darüber berichtet wird. Und ich brachte es nicht über das Herz, mein privates Wissen dienstlich zu nutzen. Die Familie musste schon so viel Leid ertragen. Außerdem kann ich den Jungen nur zu gut verstehen. Aber das lässt sich nicht mehr unter den Tisch kehren. Deshalb wollte ich ganz offen mit dir reden. Denn ich will auf keinen Fall, dass du womöglich wegen mir ein Verfahren an die Hacken kriegst. Deshalb wollte ich dir sagen: Falls du bei den Ermittlungen irgendwas, was noch mal rauskommen könnte, unter den Tisch fallen lassen hast, heb es wieder auf und bring es wieder in die Akten. Und eines will ich dir ganz klar sagen: Wenn es irgendwelchen Ärger geben sollte, nehm ich das auf meine Kappe. Darauf kannst du dich verlassen.“
„Stinkt es denn aus irgendeiner Ecke?“, fragte de Wall.
„Nein, von oben kommt nur der übliche Druck. Die wollen endlich Ergebnisse sehen.“
„Gut. Über die Akten mach dir keine Sorgen. Die sind sauber. Da kann uns keiner was anhängen.“
„Na Gott sei Dank, da bin ich wirklich erleichtert. Ich hatte in den letzten Wochen mehr Zeit zum Grübeln, als mir lieb war. Da kann man schon paranoid werden. Aber jetzt müssen wir überlegen, wie wir mit der Sache umgehen. Ich kann es einfach nicht über das Herz bringen, gegen den Sohn meines verstorbenen Nachbarn zu ermitteln. Und ich würde mich auch schämen.“
„Ich denke, du wirst auch nicht ermitteln müssen.“
„Wieso?“
De Wall erzählte das Erlebnis im Zug, und auch von seinen privaten Gefühlen gegenüber dieser Frau. „Na ja, und dann haben wir einen Deal gemacht: Sie sagte‚ ‚Wenn ich Ihnen glauben soll, dann müssen Sie auch mir vertrauen. Ich versuche, meine Freunde davon zu überzeugen, aufzuhören. Ich kann zwar nicht garantieren, dass das klappt. Deshalb werde ich Ihnen auch nicht meinen Namen und meine Adresse sagen. Aber die Chancen stehen recht gut, weil einige aus unserer Gruppe inzwischen Muffensausen haben’.“
„Da hast du aber einiges riskiert. Stell dir vor, dass wir die eines Tages doch ermitteln müssen und die bei uns im Vernehmungszimmer sitzen haben und die plaudern dann aus, dass der leitende Beamte eine Verdächtige gedeckt hat.“
„Das habe ich im Nachhinein auch gedacht – und mir das ganze Wochenende in Konstanz mit Grübeleien versaut. Das war schon regelrecht zwanghaft. Da hatte mich mal wieder der ängstliche Kleinbürger im Griff. Aber inzwischen habe ich mich beruhigt. Ich glaube nicht, dass sie mich in die Pfanne hauen würde. Dafür ist diese Frau nicht der Typ. Das könnte die gar nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Dein Wort in Gottes Ohr. Aber was ist mit den anderen der Gruppe?“
„Die männlichen Mitglieder der Gruppe werden mit Sicherheit nichts tun, womit sie ihre Sympathie verlören.“
„Und was ist mit den weiblichen? Wenn diese Frau Männer anzieht wie ein Magnet, dann könnten andere Frauen aus der Gruppe aus purem Neid etwas tun, was sie nicht will.“
„Das macht auch nichts. Wir hatten keine Zeugen. Dann werde ich eben lügen. Dass ich sie im Zug getroffen habe, bräuchte ich ja gar nicht leugnen. Nur, dass ich begriffen habe, dass sie zu den Aussortierten gehört.“
„Wie du das sagst: ‚Dann werde ich eben lügen.’ Aber du hast ja Recht. Mit unserer ’Kleine-Leute-Anständigkeitsmoral’ kann man heutzutage nicht mehr überleben. Ich glaube, selbst dein Vater würde das verstehen, wenn er miterlebt
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