Die Aussortierten (German Edition)

Anführungsstrichen gesprochen – ‚normale’ Kriminelle handelt. Damit meine ich, das sind keine Profis, die das berufsmäßig betreiben und auch keine Junkies, die sich so das Bargeld für ihren Stoff beschaffen. Jetzt werdet ihr fragen: Wie kommen wir darauf? Wir vermuten, dass es sich um junge Männer aus einer gehobenen Gesellschaftsschicht handelt. Und zwar um junge Männer, die hier aus der Region kommen. Das haben wir abgeleitet aus den Zeugenaussagen zur Sprache der Täter. Jeder Zeuge, der was dazu sagen konnte, war sich sicher, dass das Leute aus der hiesigen Region sind. Und einer der Zeugen vermutete, es handle sich um junge Männer aus der gehobenen Mittelschicht oder Oberschicht. Warum, konnte er nicht näher begründen. Aber intuitiv habe er den Eindruck gehabt, Menschen aus der Oberschicht, mindestens aber gehobenen Mittelschicht vor sich zu haben. Oder wie unser Chef dies auf Soziologisch sagen würde: Die Täter hatten einen Oberschichthabitus, der selbst durch die Maske durchschimmerte. Durch diesen Zeugen sind wir natürlich hellhörig geworden. Und siehe da, einige Zeugen sagten übereinstimmend, die hatten alle teure Jeans und teure Schuhe an. Lediglich der Kapuzenpulli sei offensichtlich ein Billigprodukt gewesen. Ein Zeuge war sich sogar sicher, dass der eine Täter nicht nur einfach teure Schuhe anhatte, sondern maßgefertigte Schuhe. Er meinte dies am Leder erkennen zu können. Zu einem der Gäste, der vor Schreck aschfahl geworden ist, sagte einer der Täter ‚Oh, der Herr ist etwas indisponiert?’. So spricht nur jemand, der über Bildung verfügt und einen entsprechenden Wortschatz hat. Wortschatz, Aussprache, Intonation, Kleidung, alles das spricht tatsächlich für die Hypothese, dass wir es mit einer Gang aus den oberen Etagen der Gesellschaft zu tun haben.“
     
    „Aber warum sollten die das tun?“, fragte ein Kollege.
     
    „Weil sie aggressiv sind.“
     
    „Und warum aggressiv? Die haben doch wohl keine Probleme, wenn die zur Oberschicht gehören.“
     
    „Oh doch“, meinte de Wall. „Die haben zum Beispiele Mütter und Väter im Genick, die es als selbstverständlich ansehen, dass ihre Kinder in der Gesellschaft Führungspositionen einnehmen. Und die auch selbst ein dementsprechendes Wertemuster verinnerlicht haben. Die stehen nicht wie unsereins wirtschaftlich unter Druck. Die stehen unter Druck, weil für sie selbst ein hohes Einkommen nicht ausreicht. Wenn die von Karriere sprechen, meinen die etwas anderes, als wir kleinbürgerlichen Spießer. Bei uns endet der Traum beim Eigenheim und wirtschaftlicher Sicherheit mit ein bisschen Luxus. Das aber wäre für die da oben ein beschämender sozialer Abstieg. Die bürgerliche Oberschicht hat in der Regel ein hierarchisches Menschen- und Gesellschaftsbild. Und es gibt nur zwei Dinge, die dort wirklich zählen: Ökonomischer Erfolg und hoher sozialer Status. Ich habe mich schon manches Mal gefragt, was wohl für ein Kind schlimmer ist: Eine autoritäre Arbeiterfamilie, in der es auch mal was auf die Fresse gibt. Oder die gutbürgerliche Familie, in der nicht mal gebrüllt wird, die aber von jeder Gefriertruhe an emotionaler Wärme übertroffen wird. Ich vermute, die Arbeiterfamilie ist unter dem Aspekt seelischer Gesundheit der angenehmere Ort. Ganz praktisch heißt das für uns: Unsere These ist plausibel.“
     
    „Ja, aber wie kann uns dieses Wissen weiterhelfen?“
     
    „Genau das ist die Frage. Wir dachten erst, die zwei identifizierten Jeansmarken könnten ein Ansatz sein. Die eine hieß, äh, irgendwas mit Religion, und die andere mit Humanität.“
     
    „’True Religion’ und ‚Citizen of humanity’“, ergänzte Tessa.
     
    „Genau. Es gibt nicht viele Läden, die diese Marken führen. Aber wir müssen trotzdem damit rechnen, dass Hunderte verkauft wurden. Und viele bezahlen bar und hinterlassen keine Spuren. Also wenn wir da über die Kreditkarten Namen und Adressen rausbekämen, dann wäre das ein großer Zufall, wenn zufällig die Täter dabei wären. Trotzdem möchte ich mir ungern vorhalten lassen, dass wir diesen Ansatz nicht verfolgt haben. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein Fall aufgrund von zufälligen Umständen gelöst wird. Und ich möchte so viel wie möglich tun, um den Zufall statistisch optimale Chancen zu geben. Und deswegen brauchen wir jetzt ein paar Leute, die diese Sysiphosarbeit auf sich nehmen und möglicherweise ein paar Hundert Leute abklappern, um Alibis zu