Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
der Wind rauschte in den Bäumen, die das Haus umgaben, Nachtvögel riefen sich ihre Grüße zu und Dingos heulten in den Bergen. Sie konnte Lilys Atem hören und das leise Seufzen von May, als sie sich im Schlaf umdrehte.
Was Rudolph wohl jetzt gerade machte? Ob er im Haus seines Bruders traumlos schlief? Oder ob er sich seine zukünftige Farm ausmalte? Ob er vielleicht an sie dachte? Wenigstens ab und an ihr einen kleinen Gedanken schenkte?
Sei keine dumme Gans, schalt sie sich. Warum sollte er?Zu Emilias großer Überraschung und Freude standen am nächsten Tag zwei Aborigine-Mädchen an der Hintertür.
»Mister Vollmer has send for us«, sagten sie. »We help with household. My name is Kylie and hers is Toora.«
Minnie lachte laut auf. »Kylie – ein Bumerang. Na, immerhin bedeutet das, dass sie immer wieder zurückkommen wird. Und Toora heißt Frau – das stimmt offensichtlich auch.«
Die beiden grinsten sie breit an, gingen zielstrebig in die Küche und feuerten den Ofen an. Carl, Fred und Lily liefen zurück zum Ort, um frische Lebensmittel in dem kleinen Gemischtwarenladen zu kaufen, den sie am Abend zuvor entdeckt hatten.
Emilia wollte sich daranmachen, die Sachen auszupacken, aber Tony und Minnie hielten sie zurück.
»Setz dich in den Schaukelstuhl auf der Veranda und genieß einfach die schöne Aussicht«, sagten sie. »Wir kümmern uns schon darum.«
Hannah, May und Lina erkundeten die Umgebung.
»Geht nicht zu weit weg«, ermahnte Emilia sie besorgt.
Es waren wunderschöne und ruhige Tage für die Familie. Sie saßen abends zusammen, die Eltern erzählten Geschichten von ihren gemeinsamen Fahrten oder sie lasen sich der Reihe nach etwas vor. Fred hatte in Europa neue Kartenspiele gelernt und brachte sie den Schwestern bei. Es gab kaum Streit und zur Verblüffung aller tauchten die beiden Mädchen jeden Morgen auf und kümmerten sich um die Küche und den Haushalt.
»So könnte es immer sein«, seufzte Emilia verzückt.
Am dritten Tag, es war Heiligabend, kam Carl, der noch schnell die letzten Einkäufe besorgt hatte, mit Post zurück.
»Zwei Briefe für dich, Minnie«, sagte er verwundert. »Wer schreibt dir denn?«
»Freunde aus der Gärtnerei«, antwortete sie und senkte den Kopf. Es war nicht wirklich gelogen, dachte sie. Sie nahm die Briefe und zog sich hinter das Haus zurück. Beide waren von Rudolph. Ihre Fingerzitterten vor Aufregung, so dass sie zuerst das Siegel kaum lösen konnte, doch dann schaffte sie es und faltete den ersten Bogen Papier auseinander. Er hatte eine schwungvolle Schrift, wie sie feststellte.
»Liebes Fräulein Lessing,
Ihr seid nun in die Berge gefahren. Dort soll es angenehmer sein als in der Stadt. Ich bin überrascht von der Hitze, auch wenn mein Bruder mir geschrieben hatte, dass es im Sommer durchaus heiß werden kann. Doch die schwüle Hitze ist sehr ungewohnt für mich. In Ryde ist es besser zu ertragen als in Woollahra, auch wenn das Haus meines Bruders mit kühlen Fliesen und großen Fenstern mit Markisen ausgestattet ist. Vieles ist hier anders, auch wenn Sydney europäisch wirkt. Es wird mein erstes Weihnachtsfest auf diesem Kontinent sein und ich hoffe, nicht das Letzte. Ich habe meinen Bruder darüber in Kenntnis gesetzt, dass ich bei Herrn Vollmer arbeiten werde. Hannes war nicht erfreut. Er hofft, dass ich mich noch umbesinne, und deshalb werden wir nach Neukaledonien fahren. Aber mein Entschluss steht fest. Martin Vollmer ist ein formidabler Mensch, bei ihm werde ich viel lernen können.
Ich hoffe, meine Zeilen haben Euch nicht gelangweilt, und verbleibe mit herzlichen Grüßen
Rudolph te Kloot«
Enttäuscht ließ sie den Brief sinken. So etwas hätte er auch seiner Tante oder Großmutter schreiben können. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war verblendet gewesen von seinem charmanten Auftreten. Er sah in ihr nur ein freundliches Mädchen, das ihm zu einer Arbeit verholfen hatte, mehr nicht.
Sei nicht blöd, schalt sie sich. Du kennst ihn nicht und er kennt dich kaum. Was soll er da anderes schreiben? Liebesbekundungen hätte sie genauso unpassend gefunden. Aber vielleicht hätte er ja ein paar persönlichere Worte finden können? Sie öffnete den zweiten Brief ohne große Hoffnungen.
»Liebes Fräulein Lessing,
oder darf ich ›liebe Minnie‹ sagen? So nennt Euch nämlich Herr Vollmer.Er lobt Euch in den höchsten Tönen und spricht sehr anerkennend von Eurer Familie, die ich hoffentlich bald kennenlernen werde.
Vielleicht liegt
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