Die Auswahl. Cassia und Ky
sich Kys neue Arbeitsstelle hier in der Stadt befinden sollte, sind doch die Freizeitaktivitäten des Sommers fast vorüber. Danach werde ich Ky nicht mehr annähernd so oft sehen. Ich erlaube mir einen ganz kurzen Wunschtraum – was, wenn ihm seine neue Arbeitsstelle mehr Zeit lässt? Dann könnte er zu allen Samstagabendaktivitäten kommen. »Nur noch ein paar Wochen, dann ist das Wandern vorbei.«
»Das meine ich nicht«, sagt er und rückt näher. »Spürst du das nicht? Irgendetwas verändert sich. Irgendetwas geschieht.«
Natürlich spüre ich das. Für mich verändert sich alles.
Seine Augen blicken wachsam, als fühle er sich immer noch beobachtet. »Irgendetwas Bedeutendes, Cassia«, sagt er und fügt leise flüsternd hinzu: »Ich glaube, die Gesellschaft hat Probleme mit ihrem Krieg an den Landesgrenzen.«
»Wie kommst du auf die Idee?«
»Ich habe so ein Gefühl«, antwortet er. »Wegen dem, was du mir von deiner Mutter erzählt hast. Wegen der Abwesenheit der Funktionäre während der Freizeitstunden. Und auch bei der Arbeit wird es Veränderungen geben. Ich spüre das.« Er sieht mich an, und ich ziehe den Kopf ein.
»Möchtest du mir erzählen, warum du dort warst?«, fragt er.
Ich schlucke. Ich habe schon darauf gewartet, dass er mich danach fragt. »Es ging um eine Praxis-Sortierung. Ich musste die Arbeiter in zwei Gruppen einteilen.«
»Aha«, sagt er und wartet darauf, dass ich weiterrede.
Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich bringe die richtigen Worte einfach nicht über die Lippen. Stattdessen sage ich: »Du hast mir gar nichts mehr von deiner Geschichte gegeben. Was ist passiert, nachdem dich die Funktionäre abgeholt haben? Wann war das? Ich weiß, dass es noch nicht lange her sein kann, weil …« Meine Stimme verliert sich.
Ky bindet langsam und methodisch ein rotes Band um einen Baum und blickt dann auf. Nach all den Jahren, in denen ich nur oberflächliche Gefühlsäußerungen von ihm gewöhnt war, erschrecken mich die neuen, tieferen manchmal. Seinen jetzigen Gesichtsausdruck habe ich noch nie gesehen.
»Was hast du denn?«, frage ich.
»Ich habe Angst«, sagt er nur. »Vor dem, was du von mir denken könntest.«
»Was meinst du? Was ist los?« Nach allem, was er durchgemacht hat, hat Ky Angst vor meiner Reaktion?
»Es war im Frühling. Sie sind in die Fabrik gekommen und wollten mit mir reden. Sie brachten mich in einen separaten Raum und fragten mich, ob ich je überlegt hätte, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich keine Aberration wäre.« Bei der Erinnerung beißt Ky die Zähne zusammen, und er tut mir leid. Als er mich anblickt und meine Reaktion sieht, wird sein Ausdruck noch verbitterter. Er will mein Mitleid nicht, deswegen wende ich mein Gesicht ab und höre einfach nur zu.
»Ich habe geantwortet, dass ich nie lange darüber nachgedacht hätte. Warum sollte ich über etwas nachgrübeln, was ich doch nicht ändern könnte? Daraufhin eröffneten sie mir, dass es einen Fehler gegeben habe. Meine Daten seien in den Paarungspool gewandert.«
»Deine Daten?«, frage ich überrascht.
Aber die Funktionärin hat mir doch erzählt, es sei ein Fehler auf dem Mikrochip aufgetreten – Kys Bild hätte gar nicht darauf sein dürfen. Sie hat behauptet, er sei
nicht
im Pool gewesen
.
Sie hat gelogen. Der Fehler war gravierender, als sie zugegeben hat.
Ky fährt fort. »Ich bin ja kein vollwertiger Bürger. Sie sagten, der ganze Vorfall sei vollkommen regelwidrig.« Er verzieht den Mund zu einem so bitteren Lächeln, dass es mir wehtut, hinzuschauen. »Dann zeigten sie mir ein Bild. Von dem Mädchen, das meine ideale Partnerin gewesen wäre, wenn ich nicht das wäre, was ich bin.« Ky schluckt.
»Wer war sie?«, frage ich mit rauer, kratziger Stimme.
Sag nicht, dass ich es war. Sag nicht, dass ich es war, denn dann weiß ich, dass ich dir nur aufgefallen bin, weil sie dir gesagt haben, wo du hinschauen sollst.
»Du«, sagt er.
Jetzt wird mir alles klar. Kys Liebe für mich, die ich für rein und unbeeinflusst von Funktionären, Daten oder Paarungspools gehalten habe, ist es nicht. Sogar sie haben sie berührt.
Ich habe das Gefühl, dass etwas in mir stirbt, zerbricht und irreparablen Schaden nimmt.
Wenn die Funktionäre unsere ganze Liebesaffäre arrangiert haben, dann wäre das Einzige in meinem Leben, von dem ich dachte, dass es
gegen
ihren Willen geschieht …
ich kann den Gedanken nicht zu Ende denken.
Der Wald um mich herum verschwimmt zu einem grünen
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