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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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draufschlagen, es mit voller Wucht und viel Krach zerstören. Ich glaube, das Glas würde klirren, wenn es zerbräche, und gern würde ich es in einem Regen aus Tausenden von Scherben glitzernd zu Boden rieseln sehen. Stattdessen muss ich vorsichtig sein.
    Ein silbriger Sprung zieht sich über die Oberfläche der Scheibe. Der zarte, eisgrüne Stoff darunter ist unversehrt. Vorsichtig ziehe ich die beiden Glasstücke auseinander, hebe das größere an und ziehe das Gewebe heraus.
    Ich streife die Socke ab und halte meine Hand hoch. Ich habe mich noch nicht mal nicht geschnitten, blute nicht einmal.
    Nach der kratzigen Wolle meiner Socke fühlt sich die Seide in meiner Hand kühl an, luxuriös, wie Wasser.
Mein Geburtstag fing an mit Wasser
, denke ich, als ich das Material zusammenfalte, und lächle.
    Nachdem ich sowohl den Stoff als auch den Tablettenbehälter in die Tasche meiner Zivilkleider für morgen gesteckt habe, lege ich mich ins Bett und denke an fließendes Wasser. Wasser. Heute Nacht werde ich auf meinen Träumen davontreiben. So, dass die Schlafelektroden nichts in meinem Kopf registrieren werden, nur mich, Cassia, wie ich auf den Wellen treibe und für eine Weile mein Gewicht tragen lasse.

    Der Offizier ist heute nicht zum Wandern gekommen.
    Vertreten wird er von einem Juniorfunktionär, der seine Befehle im Stakkato herausbellt, als glaube er, dass Offiziere immer in dieser Tonlage sprächen. Sein Blick streift uns nur, voller Genugtuung über die Macht, uns leiten und führen zu können. »Es wurde entschieden, dass die Freizeitaktivitäten in diesem Sommer reduziert werden. Heute findet das Wandern zum letzten Mal statt. Sammeln Sie so viele von den roten Bändern wie möglich ein, und stoßen Sie die Steinhaufen um.«
    Ich werfe einen Blick zu Ky hinüber, der nicht weiter überrascht wirkt. Ich versuche, ihn nicht zu lange anzusehen und keine Antworten in seinen Augen zu suchen. Auf der Airtrain-Fahrt zum Arboretum heute Morgen sind wir beide höflich und normal miteinander umgegangen – wir wissen beide, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir beobachtet werden. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wie er darauf reagiert hat, dass ich gestern auf dem Berg vor ihm davongelaufen bin. Wie wird er über mich denken, wenn er von der Sortierung erfährt? Und wird er das Geschenk annehmen, das ich ihm heute geben will?
    Oder wird er mich wie Xander behandeln, sich abwenden und nicht mehr mit mir reden wollen?
    »Aber warum denn?«, beschwert sich Lon mit nölender Stimme. »Wir haben den halben Sommer damit verbracht, die Wege zu markieren!«
    Der Anflug eines Lächelns huscht über Kys Gesicht. Er mag Lon – immer stellt er die Fragen, die sich kein anderer zu stellen traut, obwohl er niemals eine Antwort erhält. Ich verstehe allmählich, dass das eine Art von Mut ist. Eine zermürbende Art von Mut, aber dennoch.
    »Keine Fragen!«, blafft der Funktionär. »Machen Sie sich auf den Weg!«
    Und so beginnen Ky und ich zum letzten Mal mit dem Aufstieg auf den Hügel.

    Als wir auf dem Weg, den wir uns gebahnt haben, außer Sichtweite sind, fasst Ky meine Hand, während ich einen roten Streifen von einem Busch losbinde. »Vergiss das alles«, sagt er. »Wir gehen jetzt rauf zum Gipfel.«
    Wir sehen uns in die Augen. Ich habe ihn noch nie so verwegen gesehen. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber er unterbricht mich. »Es sei denn, du traust dich nicht.«
    Seine Stimme klingt so herausfordernd wie noch nie. Nicht etwa grausam, nein, aber mehr als nur gespannt. Er
muss
die Antwort wissen, und wie ich jetzt reagiere, verrät ihm etwas über mich. Gestern erwähnt er gar nicht. Sein Gesicht ist entspannt, seine Augen leuchten, sein Körper ist angespannt. Jeder Muskel sagt:
Es ist Zeit. Jetzt!
    »Klar, lass es uns versuchen«, antworte ich und gehe entschlossen auf dem Pfad voraus, den wir markiert haben. Es dauert nicht lange und ich merke, wie seine Hand meine streift, und als sich unsere Finger verschränken, verspüre ich denselben starken Drang wie er.
Wir müssen es bis zum Gipfel schaffen.
    Ich drehe mich nicht um, aber ich halte ihn ganz fest.

    Als wir in den Teil des Waldes gelangen, den wir noch nicht erkundet haben, bleibe ich stehen. »Warte«, sage ich. Wenn wir wirklich diesen Berg erklimmen wollen, dann will ich vorher das letzte Dickicht zwischen uns entwirren, damit wir frei und ungehindert dort oben stehen können.
    Hinter Kys geduldigem Gesichtsausdruck erkenne ich Besorgnis,

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