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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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eine Ausnahme zu machen«, ergänzte mein Vater.
    »Abran«, sagte meine Mutter vorwurfsvoll.
    Doch Xanders Vater war ganz seiner Meinung. »Das ist doch logisch. Eine Ausnahme als Wiedergutmachung für den Unfall. Ein Sohn, um den zu ersetzen, den sie nicht hätten verlieren dürfen. So sehen es die Funktionäre.«
    Später kam meine Mutter in mein Zimmer, um mich zuzudecken. Mit einer Stimme, die so weich war wie meine Decke, in die ich mich einkuschelte, fragte sie: »Hast du uns eben gehört?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Der Neffe – der Sohn – der Markhams geht ab morgen auf eure Schule.«
    »Ky«, sagte ich. »So heißt er.«
    »Ja«, sagte sie. Sie beugte sich hinunter, ihre langen blonden Haare fielen ihr über die Schulter, und ihre Sommersprossen leuchteten wie Sterne auf ihrer Haut. Sie lächelte mich an. »Du wirst nett zu ihm sein, oder?«, fragte sie liebevoll und ein wenig besorgt. »Und ihm dabei helfen, sich einzuleben? Es könnte schwierig für ihn werden, der Neue zu sein, wenn alle anderen schon lange dazugehören.«
    »Das werde ich«, versprach ich.
    Es stellte sich heraus, dass ihr Rat unnötig gewesen war. Am nächsten Tag in der Schule sagte Ky hallo und stellte sich allen vor. Still und schnell ging er durch die Flure und erklärte jedem, wer er war, so dass ihn niemand zu fragen brauchte. Als die Glocke läutete, mischte er sich unter die Gruppen der Schüler und wurde unsichtbar. Es war erschreckend, wie schnell er verschwinden konnte. In einem Moment war er noch da – echt und greifbar und neu –, und im nächsten Moment ging er in der Menge auf, als hätte er das sein Leben lang so gemacht. Als hätte er niemals irgendwo anders gelebt als hier.
    Und so war es immer mit Ky gewesen, erkenne ich jetzt rückblickend. Er ist immer an der Oberfläche mitgeschwommen, außer an jenem Tag, als wir ihn tief ins Wasser tauchen sahen.

    »Ich muss dir etwas erzählen«, sage ich zu meinem Großvater, während ich mir einen Stuhl zu ihm heranziehe. Die Funktionäre haben mich nicht allzu lange im Spielcenter aufgehalten, nachdem ich auf die Tabletten getreten war, so dass mir noch genügend Zeit für einen Besuch geblieben ist. Ich bin froh darüber, denn schließlich ist es das vorletzte Mal, dass ich ihn besuchen kann. Bei dem Gedanken daran habe ich ein flaues Gefühl in der Magengrube.
    »So, so«, sagt Großvater. »Etwas Schönes?« Er sitzt am Fenster, wie so oft am Abend. Er beobachtet, wie die Sonne am Horizont versinkt und allmählich die Sterne aufgehen. Manchmal frage ich mich, ob er dann noch so lange sitzen bleibt, bis er auch den Sonnenaufgang erleben kann. Fällt es schwer zu schlafen, wenn man weiß, dass man fast am Ende seines Lebens steht? Möchte man keinen Moment versäumen, nicht einmal solche, die normalerweise langweilig und unbedeutend erscheinen?
    Nachts verblassen die Farben, und alles wird grau und schwarz. Hier und da blitzt ein heller Punkt auf, wenn eine Straßenlaterne eingeschaltet wird. Die Gleise des Airtrains, die bei Tageslicht fade und stumpf erscheinen, ziehen sich jetzt, nachdem die Nachtbeleuchtung eingeschaltet wurde, wie wunderschöne leuchtende Pfade durch den Himmel. Während ich hinsehe, gleitet ein Airtrain voller Passagiere vorüber, das Innere weiß und hell erleuchtet.
    »Nein, etwas Merkwürdiges«, erwidere ich, und Großvater legt seine Gabel zur Seite. Er isst gerade ein Stück von etwas, dass sich
Beerenstrudel
nennt. Ich habe so etwas noch nie gegessen, aber es sieht köstlich aus. Ich wünschte, es wäre nicht gegen die Vorschriften, dass er mir davon etwas abgibt.
    »Es ist alles in Ordnung. Ich bin immer noch mit Xander gepaart«, beginne ich. Die Gesellschaft hat mir beigebracht, dass man Neuigkeiten auf diese Weise überbringt: erst die beruhigende Nachricht, dann alles andere. »Aber es hat einen Fehler auf meinem Mikrochip gegeben. Als ich sie mir über das Terminal angesehen habe, ist Xanders Bild verschwunden, und ich habe jemand anderen gesehen.«
    »Du hast jemand
anderen
gesehen?«
    Ich nicke und versuche, nicht zu auffällig den Kuchen auf seinem Teller anzustarren. Die blättrige, gezuckerte Kruste, die mich an Kristalle auf einer Schneekante erinnert, die roten Beeren, die über den ganzen Teller verteilt sind, reif und süß. Die Worte, die ich gesprochen habe, bleiben in meinem Kopf hängen wie das Gebäck an der schweren Silbergabel.
Ich habe jemand anderen gesehen.
    »Was hast du empfunden, als das Bild des anderen

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