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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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habe vorher noch nie gesehen, dass es angeboten wurde.«
    »Wer wohl euer Lehrer ist?«, fragt er nachdenklich. Dann schaut er aus dem Fenster. »Und wo sie wohl mit euch hinfahren werden?«
    Wieder folge ich seinem Blick. Draußen gibt es kaum freie Natur, obwohl wir viele Grünflächen haben – Parks und Spielanlagen. »Vielleicht zu einem der größeren Freizeitparks«, spekuliere ich.
    »Vielleicht zum Hügel«, meint er, und wieder leuchten seine Augen.
    Der Hügel ist der letzte Ort in der Stadt, der noch bewaldet ist und nicht kultiviert wurde. Ich kann ihn von hier aus sehen. Sein stachliger grüner Rücken ragt inmitten des Arboretums empor, in dem meine Mutter arbeitet. Früher wurde er hauptsächlich als Truppenübungsplatz benutzt, aber seitdem das Militär größtenteils in die Äußeren Provinzen verlegt wurde, wird er nicht mehr so häufig gebraucht.
    »Meinst du wirklich?«, frage ich voller Vorfreude. »Ich bin noch nie da gewesen. Ich meine, ich war natürlich schon oft im Arboretum, aber ich habe nie die Erlaubnis erhalten, auf den Hügel zu klettern.«
    »Du wirst begeistert sein, falls sie euch wirklich auf den Hügel wandern lassen«, sagt Großvater mit funkelnden Augen. »Es ist aufregend, auf den höchsten Punkt zu steigen. Und es gibt keinen, der dir den Weg zeigt oder einen anlegt, keinen Simulator. Alles ist echt …«
    »Meinst du wirklich, dass wir dort wandern dürfen?«, frage ich noch einmal. Seine Begeisterung wirkt ansteckend.
    »Ich hoffe es.« Großvater blickt zum Fenster hinaus in Richtung des Arboretums, und ich frage mich, ob er deshalb in letzter Zeit so viel aus dem Fenster schaut, weil er sich dabei an das erinnern kann, was er in sich trägt.
    Es ist, als könne er meine Gedanken lesen. »Ich bin nur ein alter Mann, der in Erinnerungen schwelgt, was?«
    Ich lächle. »Daran ist doch nichts Verkehrtes.« Tatsächlich werden die Leute am Ende ihres Lebens dazu ermutigt.
    »Aber eigentlich tue ich das gar nicht«, erwidert Großvater.
    »Nicht? Was denn dann?«
    »Ich denke nach.« Wieder liest er meine Gedanken. »Das ist nicht dasselbe, wie sich zu erinnern. Die Erinnerung ist ein Teil des Nachdenkens, aber nicht alles.«
    »Worüber denkst du nach?«
    »Über vieles. Über ein Gedicht. Eine Idee. Deine Großmutter.«
    Meine Großmutter ist früh an einer der letzten damals existierenden Krebsarten gestorben, schon mit zweiundsechzig. Ich habe sie nie kennengelernt. Die Puderdose hat ihr gehört – sie war ein Geschenk ihrer Schwiegermutter gewesen, Großvaters Mutter.
    »Was würde sie wohl zu meinem Partner sagen?«, frage ich ihn. »Und zu dem, was heute passiert ist?«
    Er schweigt, und ich warte.
    »Ich glaube«, sagt er schließlich, »sie würde wissen wollen, ob du dir Gedanken machst.«
    Ich würde ihn gern fragen, was er damit meint, aber ich höre die Glocke läuten, das Zeichen, dass gleich der letzte Airtrain zu den Wohnvierteln eintrifft. Ich muss gehen.
    »Cassia?«, fragt mein Großvater, als ich aufstehe. »Hast du noch die Puderdose, die ich dir geschenkt habe?«
    »Ja«, antworte ich, erstaunt, dass er danach fragt. Sie ist mein wertvollster Besitz. Das Wertvollste, was ich je besitzen werde.
    »Würdest du sie morgen zu meinem Abschiedsbankett mitbringen?«, bittet er.
    Tränen treten mir in die Augen. Bestimmt will er sie noch einmal sehen, um sich an Großmutter und an seine Mutter zu erinnern. »Natürlich bringe ich sie mit, Großvater.«
    »Danke.«
    Meine Tränen drohen über seine Wange zu laufen, als ich mich zu ihm hinunterbeuge, um ihn zu küssen. Doch ich unterdrücke sie; ich weine nicht. Ich frage mich, wann ich es kann. Jedenfalls nicht morgen Abend beim Abschiedsbankett. Denn dabei werden wir beobachtet. Man will sehen, wie Großvater mit dem Abschied fertig wird und wie wir damit umgehen, dass er uns verlässt.
    Auf dem Weg den Flur entlang höre ich andere Bewohner hinter ihren geschlossenen Türen mit sich selbst oder mit Besuchern reden. Ein paar der älteren Leute haben ihre Terminals laut aufgedreht, weil sie nicht mehr so gut hören. In manchen Räumen ist es still. Vielleicht sitzen einige genau wie Großvater vor dem offenen Fenster und denken an Menschen, die nicht mehr da sind.
    Sie würde wissen wollen, ob du dir Gedanken machst.
    Ich trete in den Aufzug und drücke auf den Knopf. Ich bin traurig, unsicher und verwirrt. Was hat er nur gemeint?
    Ich weiß, dass Großvaters Zeit sich dem Ende zuneigt. Ich weiß es schon seit

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