Die Auswahl. Cassia und Ky
Nahrungslieferung ankündigt, und das Geräusch, als sie durch die Klappe rutscht. Ein Knall – Bram hat etwas umgeworfen. Stühlerücken, Stimmengemurmel. Meine Mutter und mein Vater reden mit Bram. Schon bald zieht der Duft von Essen unter meinem Türspalt hindurch. Vielleicht dringt er auch durch die dünnen Wände unseres Hauses überallhin. Der Geruch ist vertraut: Vitamine und etwas Metallisches, vielleicht die Aluminiumfolie auf den Essensbehältern.
»Cassia?«, ruft meine Mutter draußen vor meiner Tür. »Du kommst zu spät zum Frühstück.«
Ich weiß. Ich trödele absichtlich herum. Ich will meinem Vater nicht begegnen. Ich will nicht über das reden, was gestern geschehen ist, will aber auch nicht einfach schweigen, wenn wir gemeinsam am Tisch sitzen und so tun, als sei Großvater nicht für immer verschwunden.
»Ich komme«, sage ich und zwinge mich zum Aufstehen. Draußen in der Diele höre ich eine Ankündigung über das Terminal und glaube, das Wort
Wandern
zu verstehen.
Als ich in die Küche komme, ist mein Vater schon zur Arbeit gegangen. Bram zieht seinen Regenanzug an und grinst begeistert. Wie kann er den Ärger von gestern Abend so schnell vergessen? »Heute soll es regnen«, erklärt er. »Das Wandern fällt aus. Sie haben es übers Terminal durchgesagt.«
Meine Mutter reicht Bram seine Mütze, und er setzt sie auf den Kopf. »Tschüss!«, ruft er und macht sich auf den Weg zum Airtrain, ausnahmsweise einmal rechtzeitig, weil er den Regen liebt.
»So«, sagt meine Mutter. »Sieht so aus, als hättest du jetzt ein bisschen Freizeit. Was möchtest du denn machen?«
Ich weiß es sofort. Die meisten anderen aus meiner Wandergruppe werden ihre freie Zeit dazu nutzen, sich auf dem Pausenhof der Schule zu treffen oder in der Schulbibliothek ihre Referate fertigzustellen. Ich aber habe etwas anderes vor, einen Besuch in einer anderen Bibliothek. »Ich glaube, ich werde mal Papa besuchen gehen.«
Der Blick meiner Mutter wird weicher, und sie lächelt. »Da wird er sich bestimmt freuen, weil ihr euch heute Morgen verpasst habt. Er kann seine Arbeit aber wahrscheinlich nicht lange unterbrechen.«
»Ich weiß. Ich will ihm ja nur guten Tag sagen.«
Und etwas Gefährliches vernichten, etwas, das ich nicht besitzen darf. Etwas, das man eher in einer alten Bibliothek findet als irgendwo sonst, falls tatsächlich die Zusammensetzung von allem registriert wird, was in den Müllverbrennern vernichtet wird
.
Ich nehme eines der trockenen Toastdreiecke aus meinem Alubehälter und denke daran, wie die beiden Gedichte auf dem Blatt Papier ausgesehen haben. Ich erinnere mich an viele der Wörter, aber nicht an alle. Ich will mich aber an
alle
erinnern. An jedes einzelne. Ob es irgendeine Möglichkeit gibt, sie mir noch einmal anzusehen, bevor ich sie vernichte? Gibt es einen Weg, sie für immer zu bewahren?
Wenn wir doch nur selbst schreiben könnten, anstatt lediglich die Eingabetasten unserer Computer zu bedienen. Dann könnte ich sie wenigstens irgendwann aufschreiben. Dann könnte ich sie noch besitzen, wenn ich alt wäre.
Ich sehe aus dem Fenster und beobachte Bram, der an der Haltestelle wartet. Bisher regnet es nicht, aber trotzdem hüpft er aufgeregt auf der Metalltreppe zum Bahnsteig herum. Ich lächle in mich hinein und hoffe, dass ihn niemand davon abhält, denn ich weiß genau, was er da tut. Da es noch nicht richtig donnert, macht er seinen eigenen Donner.
Als ich das Haus verlasse, ist Ky der Einzige, der außer mir noch zum Bahnsteig geht. Der Zug zur Schule ist bereits weg, und der nächste fährt in die Stadt. Bestimmt muss er zur Arbeit, wenn seine Freizeitaktivitäten ausfallen: Für ihn gibt es keine Freistunden. Als ich ihn dort gehen sehe, die Schultern gestrafft, den Kopf hoch erhoben, denke ich bei mir, wie einsam er sein muss. Er hat so viel Zeit damit verbracht, mit der Menge zu verschmelzen, und jetzt haben sie ihn wieder davon separiert.
Ky hört mich näherkommen und dreht sich um. »Cassia«, sagt er und klingt überrascht. »Hast du deinen Zug verpasst?«
»Nein.« Aus Höflichkeit bleibe ich einige Schritte von ihm entfernt stehen, damit er sich nicht bedrängt fühlt. »Ich fahre mit demselben Zug wie du. Ich möchte meinen Vater besuchen. Weil das Wandern abgesagt wurde, du weißt schon.«
Da Ky in unserer Siedlung wohnt, weiß er natürlich, dass gestern die Funktionäre bei uns gewesen sind. Er wird es aber nicht erwähnen – keiner wird das. Es geht niemanden
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