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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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mich herum, und etwas Hartes drückt in meine Seite. Mein Tablettenbehälter. Er muss herausgefallen sein, als ich eben meine Zivilkleidung ausgezogen habe. So unachtsam bin ich sonst nie.
    Ich setze mich auf. Gedämpftes Licht fällt von den Straßenlaternen durch das Fenster, hell genug, um die Tabletten erkennen zu können, als ich den Behälter aufdrehe und sie auf das Bett fallen lasse. Einen Moment lang sehen sie alle gleich aus. Doch als sich meine Augen an das Licht gewöhnt haben, kann ich sie voneinander unterscheiden: die mysteriöse rote Tablette. Die blaue, die uns im Notfall zu überleben hilft, denn nicht einmal die Gesellschaft kann die Natur jederzeit kontrollieren.
    Und die grüne.
    Die meisten Leute, die ich kenne, nehmen ab und zu die grüne Tablette ein. Vor einer schweren Prüfung. Am Abend des Paarungsbanketts. Bei jeder Gelegenheit, wenn man Beruhigung braucht. Man kann sie bis zu einmal pro Woche schlucken, ohne dass die Funktionäre misstrauisch werden.
    Aber ich habe die grüne Tablette nie genommen.
    Wegen Großvater.
    Ich war sehr stolz, als ich begann, sie selbst zu tragen, und zeigte sie ihm.
    »Schau mal«, sagte ich zu ihm und drehte den Deckel des Silberbehälters auf. »Ich habe jetzt die Blaue
und
die Grüne. Jetzt brauche ich nur noch die Rote, und dann bin ich erwachsen.«
    »Ah!«, sagte Großvater und wirkte gebührend beeindruckt. »Ja, langsam wirst du erwachsen, so viel ist sicher.« Er schwieg für einen Moment. Wir gingen draußen spazieren, in der Parkanlage in der Nähe seiner Wohnung. »Hast du die Grüne schon einmal genommen?«
    »Bis jetzt noch nicht«, sagte ich. »Aber nächste Woche in der Kulturstunde muss ich eines der Hundert Gemälde interpretieren, und vielleicht nehme ich sie vorher. Ich spreche nicht gerne vor der Klasse.«
    »Welches Gemälde?«, fragte er.
    »Nummer neunzehn«, sagte ich.
    Mit nachdenklichem Gesicht versuchte er, sich daran zu erinnern, um welches es ging. Er kennt – kannte – die Hundert Gemälde nicht so gut wie die Hundert Gedichte. Dennoch fiel ihm nach ein wenig Überlegung ein, welches es war. »Das von Thomas Moran«, erriet er, und ich nickte. »Ich mag die Farben«, sagte er.
    »Ich mag den Himmel«, ergänzte ich. »Er sieht richtig dramatisch aus. Die vielen Wolken oben und der wirbelnde Dunst unten im Canyon.« Das Gemälde strahlte irgendwie etwas Gefährliches aus – jagende graue Wolken, zerklüftete rote Felsen –, und auch das mochte ich.
    »Ja«, bestätigte er. »Es ist ein schönes Gemälde.«
    »Hier finde ich es auch schön«, sagte ich, obwohl die Grünanlage auf eine vollkommen andere Art und Weise schön war. Überall blühten Blumen, in Farben, die wir nicht tragen dürfen: Rosa, Gelb und Rot in verschiedenen, fast schockierend leuchtenden Tönen. Sie zogen die Blicke auf sich, sie erfüllten die Luft mit ihrem Duft.
    »Grünanlage, grüne Tablette«, sagte Großvater, sah mich an und lächelte. »Grüne Augen im Gesicht eines grünen Mädchens.«
    »Das klingt wie ein Gedicht«, meinte ich, und er lachte.
    »Danke.« Es hielt für einen Moment inne. »Ich würde diese Tablette nicht einnehmen, Cassia. Nicht wegen eines Referats. Vielleicht niemals. Du bist stark genug, um ohne sie auszukommen.«
    Jetzt liege ich auf der Seite und umschließe die grüne Tablette mit meiner Hand. Ich glaube nicht, dass ich sie nehmen werde, nicht einmal heute Abend.
Großvater glaubt, ich sei stark genug, um ohne sie auszukommen.
Ich schließe die Augen und denke an Großvaters Gedichte.
    Grüne Tablette. Grünanlage. Grüne Augen. Grünes Mädchen.
    Als ich endlich einschlafe, träume ich, dass Großvater mir einen Rosenstrauß geschenkt hat. »Nimm die statt der Tablette«, schlägt er vor. Also tue ich es. Von jeder Rose zupfe ich die Blütenblätter ab. Zu meiner Überraschung steht auf jedem Blatt ein Wort, das aus einem der beiden Gedichte stammt. Zwar nicht in der richtigen Reihenfolge, was mich verwirrt, aber ich stecke sie in den Mund und koste sie. Sie schmecken bitter, wie die grüne Tablette in meiner Vorstellung. Aber ich weiß, dass Großvater recht hat – ich muss die Worte in meinem Inneren aufbewahren, wenn ich sie behalten will.

    Als ich am Morgen erwache, halte ich die grüne Tablette immer noch in meiner Hand, und die Wörter sind immer noch in meinem Mund.

KAPITEL 11

    F rühstücksgeräusche aus der Küche dringen über die Diele bis in mein Zimmer hinein. Der Gong, der die Ankunft der

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