Die Auswahl. Cassia und Ky
Spätschicht kommen, den Bürgersteig entlangeilen, um rechtzeitig zur Sperrstunde zu Hause zu sein.
Xander steht auf. »Ich gehe jetzt lieber. Wir sehen uns morgen in der Schule.«
»Bis morgen«, sage ich. Er drückt meine Hand und gesellt sich zu den anderen Heimkehrern.
Ich gehe noch nicht hinein. Ich blicke hinaus zu den dunklen Gestalten und winke einigen von ihnen zu. Ich weiß genau, auf wen ich warte. Als ich schon befürchte, ihn verpasst zu haben, bleibt Ky vor unserem Haus stehen. Unvermittelt eile ich die Stufen hinunter und begrüße ihn.
»Hier. Das wollte ich schon seit Tagen tun«, sagt Ky. Im ersten Moment glaube ich, dass er nach meiner Hand greift und mein Herz setzt einen Schlag aus, aber dann sehe ich, dass er mir etwas hinhält. Einen braunen Papierumschlag, wie sie manchmal in Büros benutzt werden. Er muss ihn von seinem Vater haben. Ich weiß, dass meine Puderdose darin sein muss, also nehme ich den Umschlag von ihm an. Unsere Hände berühren sich nicht – ich wünschte aber, sie hätten es.
Was ist nur mit mir los?
»Ich habe dein …« Ich rede nicht weiter, weil ich nicht weiß, wie man das Gehäuse nennt, das den rotierenden Pfeil enthält.
»Ich weiß.« Ky lächelt mich an. Der Mond, der schwer und tief über dem Horizont am Himmel hängt, gleicht der sichelförmigen Scheibe einer gelben Melone, die wir in den Herbstferien zu essen bekommen. Das Mondlicht erhellt Kys Gesicht ein klein wenig, aber mehr noch leuchtet es durch sein Lächeln.
»Es ist drinnen.« Ich zeige hinter mich auf die Treppe und die erleuchtete Vorderveranda. »Wenn du kurz wartest, kann ich reinlaufen und es holen.«
»Nicht nötig«, erwidert Ky. »Das kann warten. Du kannst es mir später zurückgeben.« Seine Stimme klingt leise, fast schüchtern. »Ich möchte gerne, dass du es dir in Ruhe ansehen kannst.«
Welche Farbe seine Augen jetzt wohl haben? Reflektieren sie das Dunkel der Nacht oder den Schein des Mondes?
Ich nähere mich ihm, um nachzusehen, aber dann ertönt das letzte Glockensignal vor der Sperrstunde, und wir schrecken beide zusammen.
»Bis morgen«, sagt Ky, dreht sich um und geht.
»Bis morgen.«
Ich habe noch fünf Minuten, bis ich hineingehen muss, und so bleibe ich noch einen Augenblick lang reglos stehen. Ich blicke ihm den ganzen Weg die Straße entlang hinterher. Dann hebe ich das Gesicht hinauf zum Mond am Himmel und schließe die Augen. In Gedanken sehe ich die Worte, die ich vorhin gelesen habe:
Zwei Leben.
Seit dem Tag mit dem Fehler in meinem Mikrochip weiß auch ich nicht mehr, welches meiner Leben das wahre ist. Nicht einmal nach den Beteuerungen der Funktionärin im Park war ich ganz im Reinen mit mir. Zum ersten Mal ist mir klargeworden, dass man in seinem Leben verschiedene Wege, unterschiedliche Richtungen einschlagen kann.
Zurück im Haus lasse ich meine Puderdose aus dem Umschlag gleiten und hole Kys Artefakt aus seinem Versteck tief in der Tasche einer Ersatzhose. Als ich beide nebeneinanderlege, erkennt man sofort den Unterschied zwischen den beiden goldenen Scheiben. Die Oberfläche von Kys Artefakt ist glatt und ein wenig zerkratzt. Die Puderdose ist glänzender, und die eingravierten Buchstaben fallen sofort ins Auge.
In einem Impuls greife ich nach meinem Artefakt, drehe den Boden auf und schaue hinein. Ich weiß, dass Ky mich im Wald die Gedichte hat lesen sehen. Hat er mich auch beim Öffnen der Puderdose beobachtet?
Vielleicht hat Ky mir eine Botschaft hineingelegt?
Nichts.
Ich lege die Puderdose in ihr Fach.
Ich beschließe, den Umschlag zu behalten und Kys Artefakt hineinzustecken, bevor ich es wieder in der Tasche meiner Wechselkleidung verstecke. Doch vorher öffne ich das Gehäuse und beobachte den kreiselnden Pfeil. Er bleibt an einer Stelle stehen – diesmal zeigt er von mir weg.
Aber ich selbst drehe mich immer noch im Kreis und frage mich, in welche Richtung ich gehen soll.
KAPITEL 17
D er Aufstieg ist schon fast zu leicht.
Ich schlage Zweige beiseite, springe über Steine und zwänge mich durch das Dickicht. Meine Füße haben auf dem Hügel einen Trampelpfad hinterlassen, ich weiß, wo ich hinmuss und wie ich an mein Ziel gelange. Ich sehne mich nach einer größeren Herausforderung und einem schwierigeren Aufstieg. Ich sehne mich nach dem großen Hügel mit seinen umgestürzten Baumstämmen und dem urwüchsigen Wald. Ich glaube, wenn man mich jetzt zum Hügel bringen würde, würde ich geradewegs hinaufrennen. Oben
Weitere Kostenlose Bücher