Die Auswahl. Cassia und Ky
eine Unterhaltung mit uns beginnt, schweige ich einen Moment. Wenn ich Ky diese Worte verrate, gehe ich noch einen Schritt weiter und betrete noch gefährlicheres Terrain. Ich bringe Ky in Gefahr. Und ich werde ihm vertrauen müssen.
Soll ich es wirklich tun? Ich lasse den Blick über das Panorama schweifen, das sich hier oben vor uns ausbreitet. Der Himmel weiß keine Antwort, und die Kuppel der Stadthalle in der Ferne mit Sicherheit auch nicht. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Weg zu meinem Paarungsbankett an die Engel aus den alten Geschichten gedacht habe. Doch ich sehe keine Engel, die mit watteweichen Flügeln zu mir herunterschweben und mir die Antwort ins Ohr flüstern. Kann ich diesem Jungen vertrauen?
Irgendetwas tief in mir – Ist es mein Herz? – sagt mir, dass ich es kann.
Ich beuge mich näher zu Ky. Wir sehen uns nicht an, sondern blicken beide stur geradeaus, um sicherzugehen, dass niemand, der zu uns herübersieht, Verdacht schöpft. Und dann flüstere ich ihm die Worte zu. Mein Herz fühlt sich an, als würde es gleich zerspringen, weil ich sie ausspreche, sie tatsächlich einem anderen Menschen anvertraue:
»Geh nicht gelassen in die gute Nacht, brenn, Alter, rase, wenn die Dämmerung lauert; im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.«
Ky schließt die Augen.
Als er sie wieder öffnet, gibt er mir verstohlen etwas Raues, Papierartiges in die Hand. »Lies das zur Übung«, sagt er. »Zerstör es, wenn du fertig bist.«
Ich kann es kaum erwarten, dass ich mit der Schule und dem Sortieren fertig bin, damit ich mir endlich ansehen kann, was Ky mir gegeben hat. Ich warte, bis ich zu Hause in der Küche beim Abendessen sitze, allein, weil ich heute lange gearbeitet habe. Ich höre, wie mein Vater und Bram ein Spiel am Terminal im Flur spielen, und fühle mich sicher genug, um in meine Tasche zu fassen und Kys Geschenk herauszuziehen.
Eine Serviette.
Im ersten Moment bin ich enttäuscht. Was soll das? Das ist eine normale Serviette, wie wir sie in den Mensen der Schule, des Arboretums und auch überall sonst bekommen. Braun und holzig. Beschmiert, benutzt. Am liebsten würde ich sie sofort verbrennen.
Doch dann …
Als ich sie öffne, finde ich Worte im Inneren. Wunderbare Worte. In Schreibschrift. Schon oben auf dem grünen Hügel mit dem Wind in den Bäumen waren sie wunderschön, und wunderschön sind sie auch hier in unserer graublauen Küche mit dem Brummen des Müllverbrenners im Hintergrund. Dunkle, verschnörkelte, geschwungene Wörter ziehen sich über das braune Papier. An den Stellen, die feucht geworden sind, sind die Buchstaben leicht verlaufen.
Und es sind nicht nur Worte. Er hat auch eine Art Zeichnungen hinzugefügt. Es ist kein Gemälde, kein Bild, kein Gedicht, kein Liedtext, obwohl mein Sortierverstand Muster von all diesen erkennt. Aber ich kann sie nicht einordnen. So etwas wie das hier habe ich noch nie gesehen.
Mir wird klar, dass ich nicht einmal weiß, welches Instrument man benutzt, um solche Muster zu zaubern. Die Wörter, die ich übe, werden in die Luft geschrieben oder in die Erde geritzt. Ich weiß, dass es früher Schreibinstrumente gegeben hat, aber nicht, wie sie aussahen. Sogar unsere Pinsel in der Grundschule waren an Bildschirmen befestigt, und unsere eingegebenen Bilder wurden praktisch sofort wieder gelöscht, nachdem wir sie beendet hatten. Irgendwie muss Ky ein Geheimnis kennen, das älter ist als Großvater, Urgroßmutter und die Generationen vor ihnen. Wie man etwas erschafft. Kreiert.
Zwei Leben, hat er geschrieben.
Zwei Leben
, flüstere ich vor mich hin. Die Wörter verhallen und schweben im Raum, zu leise, als dass das Terminal sie über die anderen Geräusche im Haus hinweg hätte empfangen können. Fast zu leise für mich, um sie über meinen schnellen, lauten Herzschlag hinweg wahrzunehmen. Mein Puls geht heftiger als je zuvor im Wald oder auf dem Laufband.
Ich sollte mich in mein Zimmer zurückziehen, in die relative Privatsphäre dieses kleinen Raums mit meinem Bett, meinem Fenster. Meinem Schrank, in dem die Zivilkleidung hängt, leblos und still. Aber ich kann nicht aufhören, die Serviette anzustarren. Anfangs erkenne ich kaum, was das Bild darstellen soll, aber dann sehe ich, dass er es ist. Ky. Er ist zweimal abgebildet, einmal rechts, einmal links von dem Knick in der Mitte. Die Umrisse seines Gesichts verraten ihn, die Augenform, sein magerer, aber starker Körper. Die Auslassungen. Seine Hände und das Nichts, das sie halten,
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