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Die Auswanderinnen (German Edition)

Die Auswanderinnen (German Edition)

Titel: Die Auswanderinnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: helga zeiner
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weit entfernt zwar, und doch spielten ihr ihre malträtierten Sinne keinen Streich. Es war unzweifelhaft eine Stimme. Kraft – sie brauchte ihre Kraft zurück! Genügend Kraft, um zu schreien. Doch nur ein jämmerliches Krächzen kam aus ihrer trockenen, geschwollenen Kehle brachte. Gerade laut genug, um Kurt dazu zu bringen, sie mit einem heftigen Schlag ins Gesicht ruhig zu stellen. „Halts Maul, du Miststück!“, schnaufte er, warf die Schlange zur Seite und erhob sich ächzend. Isabella konnte die Leiter nicht sehen, aber sie hörte, wie die Metallstreben unter dem Gewicht des Eindringlings knirschten. Sie glaubte sogar eine schwache Erschütterung des Erdbodens wahrzunehmen. Und sie glaubte ein Licht zu sehen, das von oben auf sie zukam und immer heller und stärker wurde .
     
    Das Licht drang durch ihre zusammengepressten Lider, flackerte mehrmals auf und blendete sie, als sie schließlich die Augen aufschlug und wieder die Wände des Fahrstuhls vor sich sah. Die Bewegung, die sie unter sich gespürt hatte, war in ein schnelles Zittern übergegangen, mit dem der Fahrstuhl seine unterbrochene Fahrt wieder aufgenommen hatte.
    Isabella wimmerte wie ein kleines Kind und krabbelte auf allen vieren zu der ihr gegenüberliegenden Seitenwand, an der auf halber Höhe eine Metallstange befestigt war. Mühselig zog sie sich an ihr hoch, streifte ihren Rock glatt und starrte auf die geschlossenen Türen und die Leuchtziffern der Stockwerkanzeige. Sie war noch nicht wieder in der Realität angekommen. Ein Teil von ihr war noch dort, im Schacht, inmitten des Grauens, das sie in ihrem Wachtraum zum zweiten Mal durchlebt hatte. Und sie wusste, dies war erst der Anfang, denn der Wachtraum war noch nicht zu Ende gewesen, sondern nur unterbrochen worden. Etwas lauerte hinter dem Grauen, etwas, das so verheerend und so schrecklich war, dass sie es seit über achtundzwanzig Jahren ausgeblendet hatte. Sie versuchte sich zu erinnern. Denn wenn sie es jetzt erkennen und herausfinden könnte, was sich hinter dem Grauen verbarg, müsste sie später nicht noch einmal zurück in diese entsetzliche Finsternis. Sie könnte sich jetzt, hier in diesem Lift, der endgültigen Wahrheit stellen und endlich verstehen. Aber es gelang ihr nicht, so sehr sie sich auch bemühte. Zwar war da eine vage Ahnung, etwas Wichtiges, von dem sie wusste, dass es für ihr weiteres Leben ausschlaggebend war. Aber sie konnte es nicht greifen, und je mehr sie es versuchte, desto mehr entzog es sich ihrem Zugriff. Gleichzeitig wusste sie, dass sie sich damit wieder auf sicheres Terrain begab. Und schon öffneten sich die Türen des Fahrstuhls und die reale Welt umfing sie von neuem.
    Es war ein ganz gewöhnlicher Abend, und sie hatte überlebt! Niemand wartete vor den geöffneten Lifttüren, die Menschen saßen an ihren Tischen, tranken und unterhielten sich, und alles war wunderbar normal! Isabella hob ihre Schultern, streckte sich, und stellte sich vor, wie ihr Kopf von unsichtbaren Fäden nach oben gehalten wurde. Sie hatte überlebt!
    „Was ist denn mit dir los?“, fragte Eva erschrocken. „Du bist ja kreidebleich!“
    „Ich lebe!“
    „Wie bitte?“
    „Mir war schwindelig, aber es ist schon wieder vorbei“, antwortete sie und versuchte wieder ganz zu sich zu kommen. Wenn ihr nur einfallen würde, was da noch gewesen war.
    „Wir sollten langsam aufbrechen“, schlug Steve vor. „Die letzte Fähre dürfen wir auf keinen Fall verpassen, denn ein Taxi zu bekommen, dürfte in den nächsten Stunden so gut wie ausgeschlossen sein. Seht nur, was da unten los ist.“
    Isabella tat so, als würde sie den Taxistand beobachten, nickte zustimmend und nahm dann ihre Tasche vom Hocker. In einer Stunde würden sie zu Hause sein, sie würde sich hinlegen und in aller Ruhe nachdenken können. Vielleicht würde ihr in der Stille der Nacht einfallen, was sie bislang so erfolgreich verdrängt hatte und woran sie sich nun so krampfhaft zu erinnern versuchte.

Kapitel 52
     
     
    Der Wecker klingelte um sechs Uhr. Steve sprang sofort aus dem Bett und ging ins Bad. Eva drehte sich unwillig zur Seite und tastete blindlings nach dem Wecker, doch dann erinnerte sie sich, dass sie Steve noch vor acht zum Homebush Stadion fahren sollte. Auf ihrem Weg in die Küche sah sie Isabella auf dem Sofa unter einer weichen Wolldecke gekuschelt.
    Sie blinzelte Eva an, die im Morgenmantel vor ihr stand und sie anstarrte. „Guten Morgen“, murmelte sie, worauf Eva statt eines

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