Die Auswanderinnen (German Edition)
Morgengrußes nur fragte: „Was machst du denn hier? Bist du gar nicht ins Bett gegangen?“
„Muss wohl hier eingenickt sein“, antwortete Isabella, die gestern Nacht, unter dem Vorwand noch nicht müde zu sein, mit einem Cognacschwenker voll Remy Martin im Wohnzimmer geblieben war. „Wie spät ist es denn schon?“
„Es ist kurz nach sechs. Ich mache Tee, möchtest du auch einen?“
„Gerne.“ Isabella blickte aus dem Fenster und beobachtete wie ein leuchtend roter Feuerball den Himmel einfärbte und sich als länglicher, glitzernder Streifen im Meer spiegelte. Diesen Genuss sollte man sich viel öfter gönnen, dachte sie und sagte dann laut: „Wir verpennen die schönste Tageszeit in unserem Leben!“
Aber Eva hörte sie nicht. Sie setzte Wasser auf, hantierte in der Küche herum und achtete dabei genau auf die Zeit, denn sie mochte English Breakfast Tea nur dann, wenn er genau drei Minuten gezogen hatte. Sie goss Milch in die Kanne, süßte das Getränk üppig mit Zucker und füllte drei Tassen. Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer stellte sie Isabella eine davon auf den niedrigen Couchtisch.
Eine Viertelstunde später erschienen sie und Steve, fertig angezogen und mit den leeren Teetassen in der Hand, wieder im Wohnzimmer, wo Isabella noch immer in der gleichen Position auf dem Sofa saß und aus dem Fenster blickte.
„Wir müssen los“, sagte Eva. „Ich lade Steve am Stadion ab und komme danach gleich wieder zurück. So gegen halb neun, neun. Ich bringe frische Brötchen mit, dann können wir drei zusammen frühstücken.“
„Wunderbar. Ich werde es Jo Ann ausrichten, sobald sie aufwacht. Wirst du lange weg sein, Steve?“, fragte Isabella.
„Wir konnten gestern nicht alle Geräte einpacken, und auch sonst gibt es noch eine Menge zu tun. Aber ich schätze, dass ich gegen Abend fertig sein werde, und dann habe ich für den Rest der Woche Urlaub. Macht’s gut, bis dann.“
Isabella winkte den beiden nach und streckte sich, sobald sie hörte, dass die Haustür ins Schloss fiel, wieder auf dem Sofa aus. Sie war hundemüde, nachdem sie vor lauter Angst kaum geschlafen hatte! Immer wieder hatte sie sich aus einer Art Halbdämmer herausgerissen, in dem Befürchtungen, Vermutungen und Ahnungen, die sich jeder Logik widersetzten, durcheinandergewirbelt waren und sich zu einem einzigen endlosen Albtraum verdichtet hatten.
Doch mittlerweile hatte Isabella die Bilder, die sich im Fahrstuhl in ihr Bewusstsein gedrängt hatten, sortiert und analysiert. Was davon war wirklich passiert und was war schizoide Angst gewesen? Ihr Therapeut hatte ihr erklärt, dass sie eine schizoide Persönlichkeit wäre und eine so extreme Bindungsangst hätte, dass sie unfähig sei, einen Menschen nahe an sich herankommen zu lassen. Ihr Bestreben, unabhängig zu sein und möglichst jede Intimität zu vermeiden, wäre – da es über das normale Maß individueller Abgrenzung hinausginge – ein eindeutiges Zeichen krankhaften Eigenbezugs. Er hatte sie eindringlich gewarnt, dass sich ihr Misstrauen gegenüber anderen in wahnhaften Einbildungen und Wahrnehmungstäuschungen äußern könnte. Blödsinn! hatte sie damals gedacht. Aber gestern Nacht, auf dem Sofa, waren ihr seine Warnungen wieder eingefallen. Sie musste vorsichtig sein und durfte sich nicht von ihren Eindrücken täuschen lassen. Aber konnte man Realität und Einbildung so durcheinanderbringen? Sie hatte lange nachgedacht. Die gestrigen Bilder beruhten auf einem realen Erlebnis, daran hatte sie keinen Zweifel. Sie noch einmal zu durchleben war nötig gewesen, um sie endlich verarbeiten zu können, aber ein drittes Mal ... nein, davor hatte sie unbeschreibliche Angst. Deshalb hatte sie auch nicht einschlafen wollen, sondern im Schein der Leselampe auf dem Sofa gesessen – denn auch vor der Dunkelheit fürchtete sie sich jetzt – und nach dem fehlenden letzten Teil der Geschichte gesucht.
Irgendwann gegen sechs Uhr war sie dann trotzdem in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Doch jetzt war sie wieder wach, und der Kreisel drehte sich von neuem. Was war geschehen, nachdem sie die Stimme im Schacht gehört hatte? Was hatte ihr Kurt noch alles angetan? Und warum? Warum nur? War da wirklich eine Stimme gewesen? Was hatte sie gesagt, wem hatte sie gehört?
Sie hörte, wie eine Tür geschlossen wurde. Jo Ann musste aufgewacht und ins Bad gegangen sein. Isabella erhob sich, folgte ihr und trat ein ohne vorher angeklopft zu haben. Die Dusche rauschte bereits und
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