Die Auswanderinnen (German Edition)
Isabella wartete, bis Jo Ann aus der Kabine trat.
„Himmel, hast du mich erschreckt!“, rief Jo Ann, die sich einen Turban um ihr nasses Haar geschlungen hatte, ansonsten aber völlig nackt war. Ohne Eile ging sie zum Schrank, suchte Unterwäsche, Jeans und ein Sweatshirt heraus und zog sich an.
„Entschuldige, aber ich habe gehört, dass du im Bad warst.“
„Du siehst fürchterlich aus. Habt ihr euch betrunken?“
Isabella verneinte mit einer müden Kopfbewegung. „Überhaupt nicht. Ich habe auf dem Sofa geschlafen.“
„Ich bin die ganze Nacht wach gewesen.“
„Du auch? Warum?“
„Zieh dich an, Isabella. Nimm eine warme Dusche, das weckt die Lebensgeister. Ich mache uns inzwischen einen riesigen Pot Kaffee, und sobald Eva ebenfalls aufgestanden ist, werde ich es euch erzählen.“
„Eva ist schon weg. Sie fährt Steve zum Stadion und kommt erst in zwei Stunden zurück. Hör zu, Jo Ann, ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“
„Ich dir auch!“
„Was denn?“
Jo Ann hob den Zeigefinger und bewegte ihn wie ein Metronom. „Nicht jetzt! Geh duschen und zieh dich an. Der Kaffee wartet.“
Die Tassen und die Thermoskanne standen bereits auf dem niedrigen Couchtisch, als Isabella frisch geduscht und angekleidet wieder ins Zimmer kam. Jo Ann blätterte durch ein Bündel loser Faxseiten. „Schau mal“, meinte sie, ohne aufzusehen, „das kam gestern Abend noch an. Meine Freundin Mira hat unserem alten Kumpel Bill den forensischen Untersuchungsbericht abgeschwatzt. Möchtest du wissen, wie Kurt gestorben ist?“
Isabella zuckte zusammen, als ob sie von einem Peitschenhieb getroffen worden wäre. Sie blieb in der Mitte des Raumes stehen, schlang die Arme um ihren Oberkörper, als müsse sie sich schützen und öffnete den Mund. Sie wollte ja sagen, aber heraus kam nur ein verstörter, leiser Laut.
„Setz dich zu mir“, fuhr Jo Ann munter fort. „Ich werde dir die wichtigsten Stellen des Reports vorlesen. Na, komm schon“, sie klopfte auf den Platz neben sich, „es ist hochinteressant.“ Das Fax in den Händen, saß sie kerzengerade auf dem Sofa und beobachtete, wie Isabella, fahl und mit blutleeren Lippen, näher kam und sich langsam setzte. „Was ist denn los mit dir? Hast du Kreislaufbeschwerden?“
Auf einmal fühlte sich Isabella neben Jo Ann winzig und rückte deshalb wieder ein Stück von ihr weg. Sie schloss kurz die Augen, sammelte sich, und sah Jo Ann dann direkt ins Gesicht. „Ich habe mich gestern an einen Bruchteil der fehlenden Stunden erinnert. Was heißt Bruchteil ... an das meiste, nehme ich an. Es kam einfach zurück, als wäre es gestern gewesen. Ich erinnere mich jetzt an fast alles. Zumindest an die Stunden unten in der Mine. Und an das, was Kurt dort mit mir gemacht hat.“ Sie stöhnte. „Ich weiß jetzt wieder alles. Alles, außer wie Kurt umgekommen ist. Ihr habt richtig vermutet – ich muss davon ausgehen, dass ich ihn umgebracht habe, auch wenn mir dieser Teil der Erinnerung noch fehlt. Und jetzt kommst du und sagst mir, dass du weißt, wie er getötet wurde. Ob ich es wissen will? Verdammt noch mal, natürlich will ich es wissen! Ich muss endlich Gewissheit haben! Das ist der Teil, der mir noch fehlt. Und wenn ich ihn erfahren kann, ohne dazu noch einmal in die Vergangenheit zurückgehen zu müssen und sie nochmals zu durchleben ...“ Tränen liefen über ihr Gesicht und sie wischte sich achtlos mit dem Handrücken über die nassen Wangen.
Jo Ann legte die Faxblätter wieder auf den Tisch. „Du erinnerst dich?“, fragte sie fassungslos.
Isabella nickte.
„An alles? Wirklich, du weißt es wieder?“
„Er hat mich in die Mine gelockt. Er hat ... Jo Ann, die Kette ... du hast erzählt, er hat auch dich ... da wusste ich noch nicht, dass er es auch mit mir ... oh Gott, er hat mich ...“ Sie brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden.
„Er hat dich dabei angekettet, unten im Schacht?“
„Ja, und als ich nicht wegkonnte, da hat er, Jo Ann, er hatte eine ...“ Sie schluchzte laut, und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Schmerzes.
Jo Ann nahm sie in die Arme. „Mein Gott, er hat eine Schlange geholt, nicht wahr?“
Ihre Freundin lag wie ein elendes Bündel Mensch halb in den Kissen, halb in der Beuge ihres Armes und wurde von Verzweiflung und Ekel geschüttelt. „Ja, da war eine kleine Schlange.“
Jo Ann drückte sie fester an sich. „Ich weiß, mein Armes. Er hatte einen ganzen Käfig voll da unten. Das hat er gerne
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