Die Auswanderinnen (German Edition)
brauchen sie dann nur noch mit den Akten der damals als vermisst Gemeldeten abzugleichen. Ihr werdet sehen, sie werden den Fall schon bald wie ein Mordfall behandeln! Ja, genauso wird es kommen. Sie werden einen Mord untersuchen und dabei entdecken, dass ich vor dreißig Jahren gelogen habe, versteht ihr? Ist euch eigentlich klar, dass wir damals falsche Angaben gemacht haben? Sie werden wissen wollen, warum! Und deshalb bin ich froh, dass ihr hier seid. Wir müssen endlich die Wahrheit sagen.“ Sie wandte sich an Isabella und sah ihr direkt in die Augen. „Verstehst du? Wir haben keine andere Wahl, als die Wahrheit zu sagen!“
Isabella hielt ihrem Blick stand. „Warum schaust du mich dabei so an? Willst du wissen, was ich denke? Wenn du mich fragst, ich glaube, du übertreibst maßlos, weil du aufgeregt bist und deshalb keinen klaren Gedanken mehr fassen kannst. Ich finde, und das habe ich unterwegs auch schon Eva erklärt, dass wir nichts überstürzen sollten. Noch wissen wir nichts Genaues. Was ist, wenn es gar nicht Kurt ist?“
„Er ist es aber!“, flüstere Jo Ann. „Ich habe den Fundort untersucht. Die Stelle ist gar nicht weit von der entfernt, an der wir ihn vergraben haben. Wahrscheinlich ist es sogar die gleiche Stelle, ich weiß es einfach nicht mehr. Falls du dich erinnerst, Eva, die Grube, in die wir ihn gelegt haben, ist damals eingebrochen, worüber wir uns aber nicht länger den Kopf zerbrochen haben. Die Grube muss in Wirklichkeit einer der alten Schächte gewesen sein, der mit den anderen verzweigt war. Und durch die heftigen Regenfälle der letzten Tage hat das Wasser das Skelett jetzt einfach durch die Schächte getragen und nach oben gespült. Es kann niemand anders sein als Kurt!“
„Auch wenn er es ist“, überlegte Eva laut, „bin ich Isabellas Ansicht, dass die Polizei deshalb noch lange nicht automatisch eine Verbindung zu Kurt ziehen muss. Warum sollten sie auf so eine Schlussfolgerung kommen?“
„Das ist das nächste Problem!“, antwortete Jo Ann. „Wenn sie, wider Erwarten, keinen Verdacht schöpfen und ihn nicht untersuchen und identifizieren lassen, werden sie ihn hierher ins Museum bringen und dort ausstellen. Dann habe ich meine eigene private Geisterbahn direkt vor der Haustür. Sozusagen als tägliche Erinnerung! Glaubt ihr, das halte ich aus?“
Eva schlug entsetzt die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott, das ist ja fürchterlich!“ Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie sich fühlen würde, wenn das Skelett ihres ersten Mannes, der gottlob noch lebte, in ihrem Wohnort Bilgola ausgestellt werden würde. Aber es gelang ihr nicht, sich etwas derart Abartiges vorzustellen.
„Das können sie nicht machen“, warf sogar Isabella ein.
„Warum denn nicht?“, entgegnete Jo Ann. „Wer sollte es ihnen verbieten?“
Sie schwiegen eine Weile, während sich Isabella nun ihrerseits auszumalen versuchte, was sie täte, wenn ihr dasselbe mit Dieter passieren würde. Plötzlich begann sie zu lachen. „Wenn es um Dieter ginge, würde ich eine Vogelscheuche aus ihm machen und ihn im Busch aufstellen. Ich würde ihm einen witzigen Hut aufsetzen und ihm einen seiner heiß geliebten, blöden Schals umhängen, wisst ihr noch?“
Eva fiel in ihr Lachen ein. „Und ob! Die hatte er doch in allen Farben. Und hat immer so gemacht ...“ Mit kindlicher Begeisterung ahmte sie die theatralische Bewegung nach, mit der sich Dieter das Schalende stets über die Schulter geworfen hatte.
Sogar Jo Ann musste nun schmunzeln. „Eigentlich hat er das immer nur gemacht, wenn er nervös war.“
Isabella gackerte lauter. „Ja, aber leider stand der Kerl fast ununterbrochen kurz vor einem Nervenzusammenbruch.“
„Es sah schon ziemlich lächerlich aus, vor allem, wenn er den ganzen Abend damit herumgewedelt hat.“
Mit diesem Bild vor Augen prusteten sie erneut los. Es tat so gut, gemeinsam zu lachen und sich wieder ein bisschen zu entspannen, auch wenn es auf Kosten von Dieter ging, der sich nicht dagegen wehren konnte.
„Will eine von euch ein Bier?“, fragte Jo Ann, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten.
Beide Frauen nickten. Nachdem Jo Ann mit den Bierflaschen aus der Küche zurückkam und sie verteilt hatte, wurde es wieder still, und keine von ihnen wusste, wie sie an die aufgelockerte Stimmung von gerade eben wieder anknüpfen sollte. Die Erinnerung an das gemeinsame Erlebnis brachte unausweichlich weitere Gedanken an die Vergangenheit mit sich. Sie hatten so viel
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