Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
müßten schließlich wissen, was zu tun sei. Jeden Abend war der Orientexpreß der Höhepunkt. Die Reisenden saßen direkt an den hellerleuchteten Fenstern und aßen mit Silberbesteck ihre köstliche Mahlzeit. Ein paar Sekunden schaute ich in die Luxuswelt. Dann schüttelte mich die Kälte, und ich lief nachhause. Der Hippinger Hansi war in Sicherheit, er war für immer auf dem Hof seiner Eltern zuhause, ich mußte gehen. Eines Tages zu Mittag waren wir in Traunstein angekommen. Meine Mutter war im Mirtelbauernhäusl erschienen und hatte mich abgeholt. Die Zeit bei den Großeltern war zuende. Fortan sollte ich bei meiner Mutter, bei meinem Vormund sein. Er hatte für uns eine Wohnung gefunden, die nur ein paar Häuser weiter in derselben Schaumburgerstraße gelegen war, in welcher er arbeitete, im zweiten Stock, Nummer vier, Ecke Schaumburgerstraße, Taubenmarkt. Es war ein altes Haus, und es gehörte einer alten Frau Poschinger, einer reichen, früh verwitweten Bürgersfrau, die ebenerdig ein umfangreiches Geschäft für Leichen- und Begräbnisausstattung unterhielt.
Poschinger, Trauerausstattung
stand über der Geschäftstür zu lesen. In diesem Hause sollten wir fortan leben. Wir hatten zwei Kisten in einem großen Zimmer, das wir von jetzt an als Wohnzimmer bezeichneten, stehen, darauf saßen meine Mutter und ich und verzehrten jeder ein Paar Wiener Würstchen mit Senf. Es war kalt und unfreundlich, und die Räume waren nicht ausgemalt. Es waren nur zwei Zimmer und eine Küche, das große Zimmer, das Wohnzimmer, hatte jeweils zwei Fenster auf die Schaumburgerstraße und auf den Taubenmarkt, das kleinere, das Schlafzimmer, ein Fenster auf die Schaumburgerstraße, dazu gab es noch einen sogenannten Holz- und Kohlenverschlag, der fensterlos war. Das Wasser war auf dem Gang, ebenso, auf dem anderen Ende, auf der Taubenmarktseite, die Toilette. Ich kann nicht behaupten, daß ich glücklich gewesen wäre. Meine Mutter machte einen verzweifelten Eindruck. Aus Wien hatte sie Möbel mitgebracht, für meine Begriffe waren sie bequem und elegant. Sie haben bis heute nichts von ihrer Bequemlichkeit und ihrer Eleganz verloren. Fortan war der sogenannte Kanadier mein Lieblingsaufenthalt. Ich schaute aus den Fenstern und gewahrte eine völlig andere Welt, die der Kleinstadt, die ich noch nicht kannte. Ich kannte die Großstadt, und ich kannte das vollkommene Land, aber ich hatte noch nie eine Kleinstadt gesehen. Alles wickelte sich nach einem jahrhundertealten Gesetz ab. Alles nach dem Hinaufziehen und dem Herunterlassen der Rolläden der Geschäfte und nach dem Läuten der Kirchenglocken. Vom Fleischer roch es in der Schaumburgerstraße nach Fleisch, vom Bäcker nach Brot und von dem schräg gegenüberliegenden Sattlermeister Winter nach Häuten. Die Wohnung wurde ausgemalt, natürlich von meinem Onkel Farald, der zu diesem Zweck von Seekirchen nach Traunstein gekommen war, ausgerüstet mit Kübeln und Pinseln erschien er und setzte sich eine selbstgemachte Zeitungspapierkappe auf den Kopf, wie wir sie von den Anstreichern kennen. Er pinselte in ein paar Tagen die ganze Wohnung aus, machte seine Scherze und verschwand wieder. Die Wohnung roch nach frischem Kalk, war bis in die Winkel weiß. Die Möbel stellten sich mehr oder weniger ganz von selbst an die richtige Stelle. Ich hatte, während mein Onkel den Anstreicher spielte, die Stadt erkundet. Am meisten beeindruckte mich die Stadtpfarrkirche, die keine hundert Meter von unserer Wohnung entfernt war. Sie hatte riesige, um das ganze Kirchenschiff herum sich auftürmende Gewölbe, und als ich den ersten Sonntag in der Messe gewesen war, mit meiner Mutter, die sonst nie in die Kirche ging, und das Kirchenschiff unter einem gewaltigen Chor und einem vollbesetzten Fanfarenorchester zu platzen schien, wahrscheinlich war ein hoher Feiertag, und die Menge so dicht aneinandergedrängt, daß keiner umfallen hätte können, glaubte ich endlich zu wissen, was das für mich immer geheimnisvolle großväterliche Wort
gigantisch
bedeutete. Man merkte überall, daß ich zugereist war, und gab mir von Anfang an den Spitznamen
Der Österreicher
, genauer gesagt
Der Esterreicher
, es war durchaus abschätzig gemeint, denn Österreich war, von Deutschland aus gesehen, ein Nichts. Ich war also aus dem Nichts gekommen. Die Frau Poschinger hatte vier Töchter, die alle im Hause wohnten, über uns, im dritten, und unter uns, im ersten Stock, im dritten schliefen sie, zogen sie sich um,
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