Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
zwischen Deutschland und Österreich und umgekehrt gegeben. Die Adressaten mußten ihre Antworten nur an unsere und also meines Vormunds Traunsteiner Adresse schikken, damit ihre Post nach Österreich befördert wurde durch mich. Mein Vormund ist vierzehn Tage wegen dieses von mir durchgeführten Postverkehrs zwischen Deutschland und Österreich und umgekehrt im Traunsteiner Gefängnis gesessen, und wahrscheinlich hat er mir diese Unannehmlichkeit niemals verziehen, denn ich selbst war allein der Urheber und Verantwortliche dieses beinahe zwei Jahre andauernden Postverkehrs gewesen. Diese Grenzgänge waren für mich das Unheimlichste im Leben gewesen. Einmal habe ich meinen damals siebenjährigen Halbbruder von Traunstein mitgenommen und bei Marzoll über die Grenze gebracht, ohne daß meine Mutter und meine Großeltern davon gewußt hatten, warum der plötzliche Einfall einer solchen für meine Angehörigen zweifellos entsetzlichen Handlungsweise meinerseits, weiß ich nicht, über die Konsequenzen war ich mir natürlich nicht im klaren gewesen, aber ich bin mit meinem kleinen Bruder sehr wohl und ungehindert über die Grenze gekommen und habe den Bruder bei meinem entsetzten Onkel in Salzburg abgeliefert, denn was hätte ich mit meinem Halbbruder im Internat gemacht? Wahrscheinlich bin ich den darauffolgenden Samstag mit meinem Halbbruder wieder
schwarz
über die Grenze nach Traunstein zurück, die Folgen waren sicher fürchterliche gewesen. Die Zeit war angefüllt mit
Unheimlichkeit
und
Unzurechnungsfähigkeit
und mit fortwährender
Ungeheuerlichkeit
und
Unglaublichkeit
. Montaigne schreibt, es ist schmerzlich, sich an einem Ort aufhalten zu müssen, wo alles, was unser Blick erreicht, uns angeht und uns betrifft. Und weiter: meine Seele war bewegt, über die Dinge meiner Umgebung bildete ich mir ein eigenes Urteil und verarbeitete sie ohne fremde Hilfe. Eine meiner Überzeugungen war, die Wahrheit könne unter keinen Umständen dem Zwang und der Gewalt erliegen. Und weiter: ich bin begierig darauf, mich erkennen zu lassen, in welchem Maße, ist mir gleichgültig, wenn es nur wirklich geschieht. Und weiter: es gibt nichts Schwierigeres, aber auch nichts Nützlicheres, als die Selbstbeschreibung. Man muß sich prüfen, muß sich selbst befehlen und an den richtigen Platz stellen. Dazu bin ich immer bereit, denn ich beschreibe mich immer und ich beschreibe nicht meine Taten, sondern mein Wesen. Und weiter: manche Angelegenheit, die Schicklichkeit und Vernunft aufzudecken verbieten, habe ich zur Belehrung der Mitwelt bekanntgegeben. Und weiter: ich habe mir zum Gesetz gemacht, alles zu sagen, was ich zu tun wage, und ich enthülle sogar Gedanken, die man eigentlich nicht veröffentlichen kann. Und weiter: wenn ich mich kennenlernen will, so deshalb, damit ich mich kennenlerne, wie ich wirklich bin, ich mache eine Bestandsaufnahme von mir. Diese und andere Sätze habe ich oft, ohne sie zu verstehen, von meinem Großvater, dem Schriftsteller, gehört, wenn ich ihn auf seinen Spaziergängen begleitet habe, Montaigne hat er geliebt, diese Liebe teile ich mit meinem Großvater. Mehr als bei meiner Mutter, zu welcher ich zeitlebens eine schwierige Beziehung gehabt habe, schwierig, weil ihr letzten Endes meine Existenz immer unbegreiflich gewesen ist und weil sie sich mit dieser meiner Existenz niemals hatte abfinden können, mein Vater, der Bauernsohn und Tischler, hatte sie verlassen und sich nicht mehr um sie und um mich gekümmert, er ist, unter welchen Umständen ist mir niemals und also bis heute nicht bekannt geworden, gegen Kriegsende in Frankfurt an der Oder umgebracht, erschlagen worden, wie ich einmal von seinem Vater, meinem väterlichen Großvater, den ich auch nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen habe zum Unterschied von meinem Vater, den ich
niemals in meinem Leben
gesehen habe, gehört habe, immer war ich für meine Mutter, die an den Folgen des Krieges im Oktober fünfzig gestorben ist als das Opfer ihrer Familie, von welcher sie jahrelang geschwächt und schließlich und endlich wirklich umgebracht worden ist, mehr als bei meiner Mutter, mit welcher ich tatsächlich zeitlebens immer nur in dem höchsten Schwierigkeitsgrad zusammengelebt habe und
deren Wesen zu beschreiben ich heute noch nicht die Fähigkeit habe
, immer nur die
Un
fähigkeit, auch nur ihr Wesen anzudeuten, ihr ereignisreiches, aber so kurzes, nur sechsundvierzigjähriges Leben
auch nur annähernd zu begreifen
, ist mir bis heute
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