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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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getan, aus freien Stücken machte ich jetzt alles widerstandslos und zu meiner Freude. Nicht daß ich glaubte, den oder wenigstens meinen eigenen Sinn des Lebens entdeckt zu haben, aber ich wußte, mein Entschluß war der richtige. Heute muß ich sagen, der entscheidende Augenblick für mein späteres Leben war der Augenblick, in welchem ich auf der Reichenhaller Straße kehrtgemacht habe. Ich hätte wahrscheinlich gar kein späteres Leben mehr gehabt. Die Umstände, die schließlich meinen Großvater und meine Mutter erdrückt und getötet haben, hätten auch mich erdrückt und getötet. Als Gymnasiast wäre ich erdrückt und getötet worden, als Kaufmannslehrling im Keller in der Scherzhauserfeldsiedlung und unter der Aufsicht und unter der Ordnung des Karl Podlaha überlebte ich. Der Keller war meine einzige Rettung gewesen, die Vorhölle (oder die Hölle) meine einzige Zuflucht. Wöchentlich einmal, den genauen Tag weiß ich nicht mehr, hatte ich die Berufsschule, die im sogenannten Neuen Borromäum in Parsch untergebracht war, zu besuchen. Die Lehrer waren ganz andere als die im Gymnasium, sie waren Kaufleute aus der Stadt, die aus leicht durchschaubaren Gründen des Ansehens oder des Verdienstes und der durch dieses Unterrichten in der Berufsschule sichergestellten Pensionierung im Alter, durch ihre absolute Beziehung zur Gegenwart und ihren tagtäglichen Umgang mit dem Zeitablauf als Realität, mein Vertrauen hatten. Der Unterrichtsstoff hatte mein Interesse, war er doch für mich vollkommen neu, und ich war der kaufmännischen Spielart der Mathematik gegenüber zu meiner eigenen Überraschung aufgeschlossen. Die Mathematik, die mich im Gymnasium überhaupt nicht interessiert und mich immer nur gelangweilt und deprimiert hat, ist mir in der Berufsschule plötzlich eine unvorhergesehene Faszination gewesen. Mir ist, ganz aus Zufall, aus dieser Zeit eines meiner Schulhefte in die Hand gekommen, und sein Inhalt wirkt auf mich überzeugend, wenn er mir auch heute wieder in weite Ferne gerückt ist, und Sätze wie »Der Lieferer erhält einen Besitzwechsel« und »Wir kaufen Ware auf Ziel« und »Wir bezahlen einen fälligen Schuldwechsel« sind mir nicht mehr geläufig. Ich bin durchaus nicht gern in diese Schule gegangen, aber es handelte sich ja auch nur um Kurzbesuche im Neuen Borromäum, und auch diese Kurzbesuche hatten oft längere Zeiten ausgesetzt, wenn ich nämlich dazu keine Zeit gehabt habe und ein Lebensmittelaufruf als Kundenansturm dazwischengekommen ist oder weil ich die Zeit zum Aufräumen des Magazins verwendete. In der Berufsschule handelte es sich nicht um Schüler, sondern um Lehrlinge, die keine Schüler sein wollten. Und die Lehrer waren im Grunde Kaufleute oder sogenannte
Wirtschaftsfachleute
und wenn auch zu einem Großteil genauso eitel und stumpfsinnig wie die Gymnasialprofessoren, so doch erträglicher. Ich selbst mit meinem Schultrauma war zum Unterschied von den andern Lehrlingen, die die Hölle des Gymnasiums nicht gekannt haben, nur die Hauptschule oder gar nur die Volksschule, von diesen Unterrichtstagen nicht begeistert gewesen. Auch hier herrschten im Grunde die Engstirnigkeit und die Kleinlichkeit und die Eitelkeit und die Verlogenheit, aber es war alles nicht so erschütternd gewesen, alles nicht so verkrampft und pervers wie die humanistischen Gymnasialexzesse. Es herrschte vor allem ein aufrichtiger, wenn auch rauher Ton, die Spielart war die der Gewerbetreibenden, der Wirtschaftskämpfer. Was hier verlogen war, war nicht so verlogen wie im Gymnasium, was hier gelehrt wurde, war unmittelbar brauchbar gewesen, nicht auf längste Sicht vollkommen nutzlos wie im Gymnasium. Mit meinen Mitschülern in der Berufsschule hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, ich freundete mich sehr rasch mit ihnen an. Ich wunderte mich selbst am meisten, daß ich aufeinmal dem Kaufmannsstand zugehörte, was mir vor allem immer in der Berufsschule zu Bewußtsein gekommen ist, die Tatsache ließ sich nicht leugnen. Und ich wollte sie auch nicht leugnen. In Erinnerung sind mir der hinkende Lehrer Wilhelm, der kaufmännische Mathematiker und der Ingenieur Rihs, der Farbengeschäftsinhaber, zwei entgegengesetzte, sich aber vollkommen ergänzende Charaktere, die, solange ich ihr Schüler gewesen bin, den Ton in der Berufsschule angegeben haben. Ihr Einfluß war nützlich gewesen, und was ich dem einen an Sympathie entziehen habe müssen, weil mir der ganze Mensch keine Freude gewesen war, habe ich dem andern

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