Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
ich in der Frühe um halb acht aus dem Haus ging, zusammen mit dem Schlossergesellen aus dem Nachbarhaus, der übrigens später ein außerordentlich begabter Schauspieler geworden ist, der in der Zwischenzeit auf fast allen deutschen Bühnen gespielt hat. Meine Entscheidung hatte ich allein und vollkommen für mich allein getroffen, nachdem ich von meinen Erziehern jahrelang allein gelassen worden war, sie hatten keinen Ausweg mehr gewußt, sie hatten mich abgeschrieben, sie hatten keine Vorstellung von meiner Zukunft, sie selbst hatten keine Zukunft, wie sie fühlten, wie sollten sie meine Zukunft sehen, sie hatten nur noch ihr Unglück und die Nachkriegskatastrophe, die über sie hereingebrochen war, ohne daß sie mit dieser Nachkriegskatastrophe fertig werden konnten, sie waren nur fähig, ihre Katastrophe anzustarren, fortwährend starrten sie ihre eigene Katastrophe, die sie als Nachkriegskatastrophe bezeichneten, an und waren untätig. Sie waren schon halbverrückt vom Anstarren ihrer Katastrophe, ihrer Nachkriegskatastrophe. Die Familie, die niemals eine gewesen ist, weil alles in und an diesen Menschen immer und zeitlebens immer gegen den Familienbegriff gewesen ist, war eine Ansammlung von Blutsverwandten, die in einer einzigen ihnen noch zur Verfügung gebliebenen Wohnung hausten, neun Menschen, die sich nicht mehr sehen und aushalten konnten, und die von meiner Mutter und ihrem Mann, meinem Vormund, allein erwarteten, daß sie am Leben erhalten werden, daß mein Vormund, man denke, für alle neun allein Geld verdient und meine Mutter, man denke, für alle neun tagtäglich kocht. Sie verabscheuten ihren Zustand, aber sie änderten ihn nicht. Jeder war jedem lästig geworden mit der Zeit, und die Hoffnungslosigkeit hatte bald ihr Gefühls- und Geistesvermögen verbraucht. Insoferne waren sie froh, daß sich einer von ihnen selbständig gemacht hatte, wohin selbständig, war ihnen gleichgültig gewesen, sie fragten nicht danach, ich hätte tun können, was ich wollte, sah ich plötzlich, wenn ich mich nur selbst erhalte und nichts mehr von ihnen fordere. Aber ich war schließlich erst sechzehn Jahre alt, als ich mich entschlossen habe, das Gymnasium gegen den Keller des Herrn Podlaha einzutauschen. Ab dem sechzehnten Jahr verdiente ich mir für den Rest meines Lebens mein Geld selbst. Für mich hatten sie ab diesem Zeitpunkt keinen Groschen mehr auszugeben. Vom sechzehnten Lebensjahr an keine Dankbarkeit mehr. Dafür bin ich dankbar. Lieber bin ich in die Vorhölle oder, besser, in die Hölle gegangen, als im Gymnasium zu bleiben und auf die Meinigen angewiesen zu sein. Aber auch für sie war mein neuer Lebensschauplatz von Vorteil. Ich versorgte sie, nicht immer auf dem Boden der Rechtmäßigkeit, mit Lebensmitteln und rettete sie. Und die Rettung war oft nichts anderes als ein Weißbrotwecken oder eine dürre Wurst. Oder eine Konservenbüchse. Mein Großvater, von dem ich
alles
erhofft hatte, war selbst am Ende gewesen. Er hatte mir den Weiterweg nicht mehr zeigen können. Was ich von ihm gelernt hatte, taugte aufeinmal nurmehr noch in der Phantasie, nicht in der Wirklichkeit. So fühlte ich mich plötzlich auch von jenem Menschen allein gelassen, auf den ich hundertprozentig vertraut hatte. Er hatte etwas zwingen wollen mit mir, was nicht zu zwingen gewesen war. Im Grunde war eingetreten, was eintreten hatte müssen, das Gymnasium hatte sich in mir ad absurdum geführt, und schuld an meinem Studierunglück war mein Großvater gewesen, der mich das Alleinsein gelehrt hatte bis zum Exzeß, aber vom Alleinsein und Abgeschiedensein kann kein Mensch leben, im Alleinsein und Abgeschiedensein geht er zugrunde, muß er zugrunde gehen, die Gesellschaft als tödliche Umwelt bestätigt, wovon ich spreche. Ich mußte mich, wollte ich nicht zugrunde gehen, trennen auch von dem Menschen, der für mich alles gewesen war, also mußte ich mich von allem trennen, und ich trennte mich von allem von einem Augenblick auf den andern, die Konsequenzen waren mir nicht bewußt gewesen, die Trennung mußte vollzogen sein. Ich hätte vielleicht noch jahrelang in die Schule gehen und mich mit dieser Verrücktheit und Absurdität und in Wahrheit tödlichen Krankheit an jedem Tage in der Frühe verbünden können, jahrelang diesen längst unerträglichen Zustand eines tödlichen Widerwillens gegen alles hinausziehen können, am Ende wäre mir nichts übriggeblieben als die Trennung und wahrscheinlich dann nicht nur die Trennung von der
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