Die Babysammlerin (Contoli-Heinzgen-Krimi)
ein riesiger Wasserfall auf seine Mühle. Und er hatte ja auch recht mit seiner Sorge, musste sie zerknirscht eingestehen. Unvermittelt dachte sie an den Toten in der Berliner Pension. Ob sie auch so ähnlich enden würde, wenn sie weiter recherchierte? Aber was machte sie denn schon? Sie verfasste Artikel über ein Faktum und gab alleinig unangenehme Wahrheiten weiter, die diese Satansanhänger verbergen wollten. Tief atmete sie ein und merkte, wie es in ihr brodelte. Zugleich machte sich ihr Magen mit einem flauen Gefühl bemerkbar. Ihr Darm reagierte ebenfalls und zwang sie schnellstens auf die Toilette. Neben ihrer Wut erkannte sie das Gefühl der Angst in sich. Auf der Toilettenschüssel, den Kopf in die Hände gestützt, sprach sie sich Mut zu. Es hatte jedoch keine Auswirkungen auf ihre rasende Verdauung. Erst nach einiger Zeit auf auf dem stillen Örtchen traute sich Anke aus ihrem inneren Angstversteck zurück in die Wirklichkeit. Während sie sich ausgiebig die Hände wusch, sah ihr im Spiegel ein blasses Gesicht entgegen. Unwillkürlich musste sie lächeln, sprach zu ihrem Spiegelbild: „Da haben sie dich aber ganz schön gepackt, liebe Anke“. Doch ihr Lächeln erstarb rasch. Ein beengendes Gefühl stieg in ihr hoch. Sie ahnte, dass es sie noch folgenschwerer erwischen würde. Ihrem Bauch konnte sie vertrauen. Schlagartig spürte sie, dass ihr etwas Unheimliches, Angsterfüllendes bevorstand. Etwas, das sie fordern würde. Dem sie sich stellen musste. Und sie würde sich stellen. Sie war Anke Contoli. Allein das ließ sie ihren Brustkorb recken. Veranlasste sie, durch den Spiegel in ihre Augen zu schauen und laut zu sagen: „Im Leben nicht, ihr Teufelsbrüder, werde ich mich drücken.“ Dann musste sie jetzt eben in der Redaktion den neuen Artikel verfassen. Die sollten sich wundern, diese Teufel. Sie schüttelte mehrmals den Kopf, raffte ihr Haar und band das Volumen zu einem dicken Knoten. Anschließend verlieh sie ihren Lippen einen rostroten Farbton. Die Worte ihrer Mutter fielen ihr ein: Wenn du dich schlecht fühlst, mein Kind, mach dir erst mal die Lippen rot, dann sieht die Welt schon etwas freundlicher aus. Ach Mama, dachte Anke zärtlich. Sehnsüchtig verlangte sie im Augenblick nach den Armen ihrer Mutter. Ein Besuch bei ihren Eltern war schon längst wieder fällig. Sie ging zum Kleiderschrank, um Lederhose und Top anzuziehen. Im Flur schlüpfte sie in ihre gefütterte schwarze Winterlederjacke. In dem Moment hielt sie inne. Sie fühlte sich schlecht, und um ihr Selbstwertgefühl aufzumöbeln, war es gerade jetzt wichtig, umwerfend auszusehen. Nun war der Zeitpunkt gekommen für ihr neues Stück. In Sekundenschnelle wechselte sie die Kleidung und betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Sie strich die Ärmel glatt und murmelte: „Na ja, muss ja nicht immer Leder sein“.
Ankes Herz klopfte schneller als gewöhnlich, als sie zwei Stunden später nach erfolgreich verfasstem Artikel gegen zweiundzwanzig Uhr ihren alten blauen VW-Cabrio in der freien Parklücke für Anwohner mit Ausweis unweit des Denkmal geschützten Hauses einparkte. Vergebens suchten ihre Augen Wolfs Porsche im Umkreis. Ein Blick aufs Haus mit seinen dunklen Fenstern bestätigte ihren Verdacht. Sie hätte ihn doch besser vorher von der Redaktion aus anrufen sollen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte. Enttäuscht, müde und ausgelaugt, lehnte sie ihren Kopf gegen die Stütze und schloss die Augen. Ihre letzten Energiereserven steckten in ihrem Artikel. Natürlich war sie vorsichtig vorgegangen, was Berlin und die Apostel Diabolus betrafen, hatte jedoch einiges ihres Wissens durchfließen lassen. Außerdem Elemente der Ausstiegsberatung aufgegriffen und über die Probleme berichtet, die unmittelbar mit dem Verlassen eines Kultes einhergehen. Die Idee hierzu war ihr erst beim Schreiben in Bezug auf den Tod des jungen Sektenmitgliedes gekommen. Ihr Artikel konfrontierte die Bonner Bürger mit: Post Traumatic Stress Disorder, Dissoziation, Depressionen, Perspektivlosigkeit, Schuldgefühle, Misstrauen, irrationales Denken, Schlafstörungen, Alpträume und tiefe philosophische/religiöse Fragestellungen. Mit Entfremdungsgefühle, Wut und Ärger, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen bis hin zu Spiritualisierung des Alltags, alles variierte von Person zu Person. Sie hatte weiterhin über sogenannten Floatingerfahrungen informiert, die Aussteiger einer Sekte begleiten können. Nun wussten die Leser, dass dieses
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