Die Babysammlerin (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Caras fasst sich ans Herz. In dem Moment, als sie die Leblosigkeit richtig deutete, drohte es ihr aus dem Hals zu springen. Sofort wusste sie, zu viel Sedinfant gegeben zu haben. Aber wieso lebte dann das andere?, fragte sie sich. Natürlich, jeder Säugling reagiert anders. Ihre Gedanken schossen quer, drehten sich, verfingen sich, wurden wieder klar. So klar, dass sie sich sagen konnte: Ich brauche noch eines, oh Satan, Gott, wer auch immer, hilf mir. Du musst ruhig werden, so geht das nicht, dachte ein Wesen in ihr. Sie wusste, dass dies stimmte, aber die Panik breitete sich weiter in ihr aus. Als könne sie den Anblick nicht ertragen, zog sie das Baby rasch aus, säuberte es und tauchte es in den Glasbehälter neben dem anderen toten Kind. So würden sie wenigstens nicht verwesen, und es konnte kein Geruch aufkommen. Sie wunderte sich über ihre Kaltblütigkeit. Jemand anders hatte die Rolle übernommen, jemand, der für ihr Überleben zuständig war. Nein, sie war das nicht selbst, das konnte sie gar nicht sein. Manchmal glaubte sie, sie tue nur so, als ob sie lebe, um der Welt etwas vorzuspielen. Es kam ihr vor, als hätte sie nur noch ein Flimmern im Hirn. Sie musste ihre Aufgabe noch einmal erledigen, damit zum Schluss wenigstens eins übrig blieb.
Cara hüllte sich in einen weiten Popelinmantel, den einmal Leons Mutter getragen hatte, fand auch eine dazu passende Baskenmütze und stülpte sich eine Sonnenbrille auf die Nase.
Zunächst lief sie ziellos durch die Straßen des nahegelegenen Wohngebietes, die große, blaue Plastiktragetasche mit der Babydecke zusammengedrückt unter ihren Arm. Kein Kinderwagen, kein Baby in Sicht, das sie hätte an sich nehmen können. Je länger sie umher irrte, umso besessener wurde sie von der Erfüllung ihrer Aufgabe gepackt. Es musste klappen. Schließlich, nach mehr als zwei Stunden hatte sie ihre Aufgabe erfüllt. Erst, als sie das neue Baby mit Nahrung versorgt und sediert hatte, sie den Keller hinter sich lassen konnte, fiel ihr auf, dass Leon noch nicht zurück war. Es war schon Abend. Unschlüssig lief sie durch das gesamte Haus, als suche sie ihn in irgendeiner Ecke. Der Abend verging, ohne dass er auftauchte. Ein sonderbares Gefühl beschlich sie. Dieses ganz bestimmte, von dem sie wusste, dass es wahr werden würde. Sie dachte an Dr. Baurs Worte, ihr könnt immer zu mir kommen, wenn etwas ist, ihr Hilfe braucht, ob Tag oder Nacht. Gegen Mitternacht hielt sie es nicht mehr aus und rief ihn an. Es nahm niemand ab. Er schlief sicherlich fest. Der Druck in ihrem Inneren drohte sie zu zerreißen. Das Baby in ihrem Bauch schien das zu spüren. Es bewegte sich heftig und drückte gegen ihre Bauchdecke. Cara setzte sich und legte die Hände auf den Bauch und sprach zu ihrem Baby: „Es passiert dir nichts, ich habe alle Vorbereitungen getroffen, die dich retten. Er wird es nicht schaffen.“ Warum aber spürte sie dann seine Nähe? Langsam erhob sie sich, nahm wie in Trance ihre Jacke und verließ das Haus. Schlug, ohne dass es ihr bewusst wurde, den Weg zu Dr. Baur´s Haus ein. Verdutzt nahm sie die offen stehende Haustür wahr. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Das Baby drückte in dem Moment so heftig auf ihre Blase, dass sie Urin verlor.
„Dr. Baur!“, rief sie in die Dunkelheit.
Sie erhielt keine Antwort, schob die Haustür auf und trat ein. Wartete. Ahnte eine unsichtbare Gefahr. Plötzlich schwankte sie zwischen aufkommender Wut und Trotz. Mit einer Hand stützte sie sich an der Wand ab. Das Chaos in ihrem Inneren schien von einer Sekunde zur anderen zu wechseln. Sie wartete geduldig, bis sich alles in ihr beruhigte. Entschlossen, getrieben von einer Kraft, die keine Angst kannte, suchten ihre Finger nach dem Lichtschalter. Sie ging, rief unterdessen immer wieder seinen Namen, weiter in eines der nächsten Zimmer. Schaltete auch hier das Licht an und fand nur Leere. Was war nur los. Cara legte einen Augenblick die Hand auf ihre Lippen, als wolle sie ein Stöhnen unterdrücken, atmete dann aber tief durch und straffte sich. Ingo durchkämmte jetzt forsch einen Raum nach dem anderen, setzte mutig seinen Fuß auf die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.
26
Beschwere dich nicht über Personen oder Situationen,
deren du dich eigentlich nicht selbst aussetzen müsstest . (Satanisches Gesetz)
Die Monate vergingen, ohne dass Cara ihre vom Guru verkündete Aufgabe erfüllen musste.
Zehn Monate später, nachdem er zum ersten Mal zu ihr davon gesprochen hatte,
Weitere Kostenlose Bücher