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Die Baeren entdecken das Feuer

Die Baeren entdecken das Feuer

Titel: Die Baeren entdecken das Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
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still. Da verstand ich (und ich verstehe jetzt), was Physiker meinen, wenn sie sagen, daß im Universum alles in Bewegung ist, daß eins ums andere kreist, denn in dem schwarzen stillen Wasser stand ich als einzig Unbewegtes im Zentrum aller Dinge. War dies meine subjektive oder eine objektive Wirklichkeit? Belanglos, diese Frage. Das hier war realer als alles, was mir bislang zugestoßen ist und jemals widerfahren wird.
    Freude blieb aus, aber ich empfand auch keine Furcht. Uns erfüllte ein kaltes Nichts, durch und durch. Ich war schon immer hier und würde auf ewig hier sein. Sorel ist vor mir und vor ihr der Andere, und wir bewegen uns wieder. Durch das schwarze Wasser. Tiefer und tiefer hinein. Es ist, als schaute ich mir selbst nach, wie ich davongehe und kleiner werde.
    Das ist kein Traum mehr. Noroguchi versinkt im Wasser. Sorel folgt ihm, wird immer kleiner. Ich weiß, daß es hinter diesem noch ein weiteres Reich gibt und hinter jenem eine Vielzahl weiterer Reiche, und diese Gewißheit löst eine Verzweiflung in mir aus, die so massig ist wie Furcht.
    Voller Entsetzen weiche ich zurück, reiße mich von Sorel los, die mich mit sich zu ziehen versucht. Und dann ist auch sie untergegangen.
    Verschwunden.
    Ich hebe beide Hände und stoße unter den Sargdeckel. Von der Hand, die im Handschuh gesteckt hat, tropft mir kalte Schmiere ins Gesicht. Ich schreie tonlos ohne Luft.
    Dann der Schock und warme Dunkelheit. Wiederbelebung. Als ich aufwachte, war mir kälter als je zuvor. DeCandyle half mir beim Aufsitzen.
    »Nicht gut?« Er weinte; er wußte Bescheid.
    »Nicht gut«, sagte ich. Mein Zunge lag dick im Mund und schmeckte nach der ekligen Schmiere. Sorels Hand steckte immer noch in dem Handkorb, und als ich hineinlangte, um ihre Hand zu bergen, löste sich davon die Haut wie von einer faulen Frucht und blieb an meinen Fingern kleben. Draußen hörten wir die Demonstranten skandieren. Es war Sonntagmorgen.
     
    Das war vor zweieinhalb Monaten.
    DeCandyle und ich warteten, bis die Protestierer zur Kirche gingen; dann fuhr er mich nach Hause. »Ich habe beide auf dem Gewissen«, jammerte er. »Zuerst ihn, dann sie. Im Abstand von nunmehr zwanzig Jahren. Jetzt ist keiner mehr da, der mir verzeihen könnte.«
    »Sie wollten es nicht anders. Die beiden haben Sie für ihre Zwecke benutzt«, sagte ich. So wie sie mich benutzt haben.
    Ich ließ mich vor der Einfahrt absetzen. Er und sein Selbstmitleid waren mir ein Graus, und ich wollte die paar Schritte zum Atelier allein gehen. An Malen war nicht zu denken, auch nicht an Schlaf. Ich durchwachte den Tag und die ganze Nacht in der irrigen Hoffnung, ihre kalte Berührung im Nacken zu spüren. Wer sagt denn, daß Tote nicht gehen können? Die ganze Nacht marschierte ich im Atelier auf und ab. Irgendwann muß ich dann eingeschlafen sein, denn mir träumte, sie sei zu mir gekommen, nackt und strahlend und prall und Haut und Haar mein. Ich erwachte und lauschte den Geräuschen, die durch das halboffene Fenster über meinem Bett drangen. Erstaunlich, wieviel Leben in Wäldern steckt, selbst zur Winterszeit. Ich fand das widerlich.
     
    Am folgenden Mittwoch bekam ich einen Anruf von meiner Ex. Im parapsychologischen Institut sei eine Frauenleiche aufgefunden worden, und womöglich werde man mich ersuchen, bei der Identifizierung behilflich zu sein. DeCandyle sei bereits verhaftet worden, und es könnte sein, daß man mich über ihn ausfragen würde.
    Dazu kam es jedoch nicht. Die Polizei hält wohl nicht viel von blinden Augenzeugen. »Und der Uni ist natürlich daran gelegen, die ganze Geschichte möglichst klein zu halten«, meinte meine Ex. »Vor allem auch deshalb, weil die Leiche auf ganz bizarre Weise in Verwesung übergegangen ist«, fügte ihr Freund hinzu.
    »Was soll das heißen?«
    »Ein Bekannter von mir arbeitet in der Gerichtsmedizin«, erläuterte er. »›Bizarr‹ ist sein Ausdruck. Er sagte, es sei die sonderbarste Leiche, die er je gesehen habe. Manche Körperteile zeigten sich schon schwer verfault, während andere noch relativ frisch waren. Diese Frau scheint in Etappen gestorben zu sein, über einen Zeitraum von mehreren Jahren.«
    Sorel wurde am Freitag beerdigt. Es gab keine Trauerfeier, nur das übliche Procedere am offenen Grab, damit alles seine Ordnung hatte. Ihre letzte Ruhestätte fand sie in jenem ausgegrenzten Teil des Friedhofs, wo amputierte Glieder und ausgediente Schulungskadaver zu liegen kamen. Seltsam, einen Menschen zu betrauern, den

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