Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
verkündet, als Per Olav im Türrahmen stand und die Kinder bereits hinausgelaufen waren.
»Okay«, hatte er geantwortet. Per Olav aß gerne Fisch. Eigentlich war sie es, die keinen mochte. Vor allem der Geruch war ihr zuwider. Am schlimmsten war es, wenn sie ihn zubereiten musste, mit dem Messer die schleimige Haut aufschnitt, die grauweiße Masse mit den Blutresten freilegte … Sie musste den Fischverkäufer bitten, ihr den Fisch zu filetieren. Doch bei Rema gab es keine Fischtheke. An der Truhe mit dem gefrorenen Fisch war sie schon vorbeigegangen, und wenn sie jetzt kehrtmachte, würde sie bestimmt dem Alten mit der grauen Jacke in die Arme laufen, der nach billigem Tabak stank und ihr ein Gespräch aufdrängen wollte.
Sie stürmte zur Kasse. Sie musste Brot kaufen. Das Tiefkühlfach war leer. Ganz oben auf ihrer Einkaufsliste stand Brot. Mit Großbuchstaben und Ausrufezeichen! Damit es für das Abendessen und die Lunchpakete reichte. Heute Morgen hatte sie ihnen Knäckebrot mitgegeben, aber das wurde immer weich, die Kinder mochten es nicht und kamen deshalb hungrig nach Hause. Im Jugendzentrum würden die Leute tuscheln, dass ihre Kinder nicht genug zu essen bekämen. Sie riss einen Sack mit Katzenfutter an sich, zwei große Säcke. Der Wagen quoll bald über. Sie hatten keine Katze. Vier Personen standen an der Kasse. Die andere Kasse war geschlossen. Sie bog in den nächsten Gang ein und stellte den Wagen vor dem Regal mit den Süßigkeiten ab. Es roch nach Schokolade, Keksen und Weingummi. Sie schaute in die andere Richtung, als sie an der unbesetzten Kasse vorbeischlüpfte, hinaus ins Licht.
Die Wände des Tunnels rasten an ihr vorbei. Ihr Spiegelbild im Fenster hatte einen dunklen Schatten. Sie sah die Augen nicht, aber sie spürte den bösen Blick. Sie drehte sich um, und ihr Blick huschte durch den U-Bahn-Waggon. Er war fast leer. Nur zwei Kinder, die offenbar die Schule schwänzten, und eine Frau mit Kopftuch und Kinderwagen – bestimmt eine Kurdin, denn eine der Mütter im Kindergarten trug genau so ein Kopftuch, und sie war Kurdin.
Solveig Lundwall las das Gedicht auf dem Plakat, das neben der Tür klebte. »Wenn du dich umdrehst, siehst du nach vorne«, stand da. Sie wollte nicht weiterlesen. In der Tasche hatte sie eine Dose mit Pastillen. Dort fand sie auch einen Zettel. Ihre Einkaufsliste. Brot – mit Großbuchstaben und Ausrufezeichen. Als sie die Wörter las, konnte sie nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Sie warf den Zettel auf den Boden, als hätte sie sich verbrannt, sprang auf, lief in den hinteren Teil des Wagens und setzte sich mit dem Rücken zu den anderen Leuten. Dort lag eine Zeitung. »Immobilienmarkt boomt.« Sie blätterte weiter. »Auf offener Straße erschossen.« Ja, die Straße war offen. Und derjenige, der Augen hat, vermag zu sehen. »Bei Autounfall getötet.« Sie starrte das Foto des Mädchens an. Sie hatte lange, blonde Haare, große Augen und einen Mund, der empfindsam, geradezu selig lächelte.
»Was willst du mir sagen, kleiner Engel?«, murmelte Solveig. Auf der nächsten Seite las sie: »Brauchen Sie Hilfe?« Sie drehte sich zu dem bösen Gesicht im Fenster um. Ja, Solveig, jetzt brauchst du Hilfe. Sie spürte, wie sie dieser Gedanke beruhigte. Dann musste sie lachen, weil es ihr so guttat. Sie spürte den salzigen Geschmack ihrer Tränen in den Mundwinkeln, aber sie weinte nicht. Eine große Ruhe breitete sich in ihrer Brust aus.
»Danke, Herr«, flüsterte sie. »Danke, Herr, dass du mich siehst. Und wenn ich auch wanderte im finsteren Tal …«
Am Stortinget stieg sie aus. Die Jacke blieb auf dem Sitz liegen. Sie fror nicht. Sie wollte sich leicht fühlen. Stand auf der Rolltreppe und stieg hinauf ins Licht. Der Himmel war strahlend hell, und es schien ihr, als würde sie immer höher steigen, bis weit über die Dächer.
Im Bogstadveien blieb sie vor der Tür des Ärztehauses stehen. In ihrem Rücken fuhr die Straßenbahn vorüber. Es dauerte eine Weile, bis die nächste kam. Du brauchst Hilfe, Solveig, dachte sie erneut. Aber es nützte nichts. Erneut spürte sie, wie etwas durch ihre Brust strömte, doch sie empfand keine Ruhe. Kleine Stöße gingen durch sie hindurch. Sie ließ sich in Richtung Majorstua treiben. Dort gibt es ein Fischgeschäft, Solveig, dort kannst du fünf Fische kaufen und sie dir filetieren lassen. Ein Mann auf der anderen Straßenseite blickte zu ihr herüber. Er ähnelte Pastor Brandberg aus Salem. Pastor Brandberg ist tot,
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