Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
äußerst gefährdet. Schon zwei Mal hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen.
»Ich werde das Krankenhaus verständigen«, sagte er.
Eine Stunde später ging er mit Miriam zu seinem Auto, das er unten im Hof geparkt hatte.
»Was passiert jetzt mit Ihrer letzten Patientin«, wollte sie wissen.
Er bog auf den Bogstadveien in Richtung Majorstua ab.
»Mit Frau Lundwall? Sie wird vermutlich nicht allzu lange im Krankenhaus bleiben. Normalerweise dauert es ein paar Wochen.«
Er hielt vor der roten Ampel und blickte zu dem breiten Treppenaufgang des Majorstuhuset hinüber, in dem sich auch die U-Bahn-Station befand. Zahlreiche Leute eilten die Stufen hinauf und hinunter. Die Person, die Solveig Lundwall gesehen hatte, mochte ihrer wirren Phantasie entsprungen sein. Allerdings passte die Beschreibung auf den Mann, dem er gestern hinterhergelaufen war. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, den Wagen abzustellen und dort hineinzugehen, nach ihm zu suchen …
»Sie ist eine engagierte Vorschullehrerin«, sagte er. »Sie hat selbst drei Kinder, und ich habe nie daran gezweifelt, dass sie eine gute Mutter ist. Manchmal kommt es bei ihr zu psychotischen Schüben. Dann › schnappt sie über‹, wie sie es selbst nennt. Das letzte Mal vor drei, vier Jahren.«
»Sie vertraut Ihnen offensichtlich.«
»Ja, glücklicherweise. Letztes Mal wäre es beinahe schiefgegangen.«
»Mich hat sie ja total abgelehnt. Ich glaube, sie wollte Sie für sich allein haben.«
Er wechselte die Fahrbahn und beschleunigte.
»Sie idealisiert mich vollkommen. Heute hat sie mich vor dem Majorstuhuset stehen gesehen. Ich sah aus wie Jesus.«
Sie lachte nicht. Er war drauf und dran, ihr noch mehr zu erzählen, wollte ihr anvertrauen, dass er einen Zwillingsbruder hatte. Er sah zu ihr hinüber. Sie war etwa Mitte zwanzig, sicher fünfzehn Jahre jünger als er. Aber sie strahlte diese enorme Ruhe aus. Und hatte etwas in ihrem Blick, das es ihm ermöglichte, sich ihr gegenüber zu öffnen. Er verspürte den plötzlichen Drang, seine Hand auszustrecken und ihre Haare zu berühren. Er richtete den Blick nach vorne und konzentrierte sich auf den Verkehr.
Die Praktikanten waren von den Hausbesuchen meistens sehr angetan. Sie weckten in ihnen offenbar die Vorstellung vom guten, alten Hausarzt, der seine Patienten umfassend betreute und sich zu alten Damen auf die Bettkante setzte, wenn diese Atemprobleme hatten. Und der versuchte, eine Einlieferung ins Krankenhaus erst einmal zu umgehen, indem er die Dosis des harntreibenden Medikaments erhöhte. Sie besuchten unter anderem einen fünfjährigen Jungen mit hohem Fieber und Hautausschlag, dessen Mutter am Telefon völlig hysterisch gewesen war und sich nicht getraut hatte, mit dem Kind zur Notaufnahme zu gehen. Der Arzt müsse zu ihnen kommen. Als der Junge den Arztkoffer sah, fing er sofort an zu heulen. Axel blies einen Gummihandschuh auf und machte einen Luftballon daraus, auf den er mit einem Stift Mund, Nase und Ohren malte. Nach einer Weile hatte sich der Junge so weit beruhigt, dass Axel sich Ohren und Hals ansehen und ihm in die Augen leuchten konnte. Letzteres erlaubte er sogar Miriam. Axel versicherte der Mutter, dass Hautausschlag und Fieber die üblichen Symptome des Dreitagefiebers seien, an dem vermutlich der halbe Kindergarten erkrankt sei. Er gab ihr seine Handynummer und sagte, sie könne ihn jederzeit anrufen, wenn sie sich weiterhin Sorgen mache. Als sie sich verabschiedeten, spielte der Junge mit dem Ballonhandschuh und wollte dem Doktor unbedingt noch ein Feuerwehrauto zeigen, das er unter dem Sofa versteckt hatte.
Gegen halb fünf hatten sie den letzten Hausbesuch hinter sich gebracht. Axel hielt an der Bushaltestelle Majorstua.
»Dann sehen wir uns am Montag«, sagte sie und blieb sitzen.
»Nicht morgen?«
»Morgen muss ich mir freinehmen. Und freitags haben wir immer Gruppenunterricht.«
Er blinkte und ordnete sich wieder in den Verkehr ein.
»Sie wohnen in Rodeløkka, nicht wahr? Dann kann ich Sie auch genauso gut dort absetzen.«
Als sie am Ullevål-Krankenhaus vor der roten Ampel standen, dachte er an Solveig Lundwall. Bestimmt hatten sie ihr eine Pferdedosis verabreicht, und jetzt kämpfte sie im Schlaf gegen den Engel des Abgrunds, der in ihr wütete. Etwas Schreckliches wird geschehen, Axel. Menschen werden sterben.
»Ich habe einen Bruder«, sagte er unvermittelt, als er in die Helgesens gate abbog. »Einen Zwillingsbruder. Ich habe ihn seit über
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