Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
der Jahreszeit, gar nicht so kalt. Er tauchte mit dem Kopf unter und schwamm, solange er konnte. Brede und er hatten stets einen Wettkampf veranstaltet, wer am längsten unter Wasser bleiben konnte. Er hatte fast drei Minuten geschafft. Das war am Oksvalstrand gewesen. Doch Brede konnte noch länger. Vier Minuten. Axel hatte es mit der Angst bekommen. Er schrie und ruderte mit den Armen. Ein paar Erwachsene kamen herbeigelaufen. Sie fanden Brede unter dem Steg, zogen ihn an Land, pumpten das Wasser aus ihm heraus und beatmeten ihn von Mund zu Mund. Nachher konnte sich Brede an nichts mehr erinnern. Ihm war einfach schwarz vor Augen geworden. Und noch mehrmals in diesem Sommer geschah es, dass sein Blick förmlich erstarb und er für Sekunden nichts mehr von seiner Umwelt wahrnahm. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf, sah panisch aus. Jemand hätte verstehen müssen, was mit ihm los war, aber niemand fragte danach. Es war derselbe Sommer, in dem die Sache mit Balder geschah und Brede fortgeschickt wurde.
Axel trocknete sich mit seiner Trainingsjacke ab, schlüpfte schnell in seine Kleider und lief weiter, um wieder warm zu werden. Er entdeckte einen Trampelpfad, der mitten ins Gestrüpp führte. Zwischen den Bäumen waren Stiefelabdrücke in der feuchten Erde zu erkennen. An einer moosbewachsenen Kuppe hörten sie auf. Er kletterte hinauf, sprang auf der anderen Seite wieder herunter und wäre fast über einen Haufen von Zweigen gestolpert. Darunter erkannte er schwarzes Plastik. Ein schwerer Stein war vor etwas plaziert, das wie eine Öffnung aussah. Er rollte ihn weg, zog die Plane zur Seite und spähte hinein. Spärliches Licht schimmerte durch die Tannenzweige, die das Dach einer kleinen Hütte bildeten. Sie war ein paar Meter lang. Auf einem Pappkarton, in dem sich einst Bananen befunden hatten, standen eine Öllampe und zwei Kerzen, die auf flachen Steinen festgeschmolzen waren. Neben dem Karton erahnte er eine Tüte und einige leere Flaschen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und kroch in die Hütte hinein. In der Tüte befand sich altes Brot, das zwar trocken, aber nicht schimmelig war. Die Flaschen stanken nach billigem Fusel. In einer Ecke lagen ein zusammengerollter Schlafsack und zwei Wolldecken. Darunter ein dünnes Buch. Er nahm es an sich und krabbelte ein Stück zurück, bis er im Zwielicht die Schrift auf dem Umschlag lesen konnte. »Dhammapada« war der Titel. Dem Rückseitentext zufolge eine buddhistische Schrift. Die Seiten waren fleckig und vergilbt. Hier und da war etwas unterstrichen, an einer Stelle sogar mit Rotstift: »Die in ihrer Jugend nicht in Harmonie mit sich selbst gelebt und des Lebens wahre Schätze nicht gesammelt haben, werden später wie langbeinige, alte Graureiher sein, die traurig vor einem Tümpel ohne Fische stehen.«
Etwas strich über seinen Nacken wie ein Windstoß. Er fuhr herum und hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl, in das Leben eines anderen Menschen – wer immer das auch sein mochte – eingedrungen zu sein. Er legte das Buch zurück, erklomm erneut die kleine Kuppe und begann zu laufen, rannte, so schnell er konnte, den Pfad entlang und spürte, wie die Wärme in seinen Körper zurückkehrte.
Erst nachdem er sein Fahrrad aufgeschlossen hatte und langsam den Hügel in Richtung Straße hinunterrollte, bemerkte er, dass im Hinterrad kaum noch Luft war. Er prüfte das Ventil, doch es schien dicht zu sein. Er griff zur Pumpe. Als er nach ein paar Minuten den hinteren Schlauch zusammendrückte, stellte er fest, dass er einen Platten hatte.
In der Nähe des Ausflugslokals Ullevålseter marschierte ihm eine Frau mit Skistöcken entgegen, die sie beim Gehen energisch in den Boden hieb. Axel, dem die kleine Gestalt mit der verbissenen Miene gleich bekannt vorkam, grüßte sie im Vorübergehen.
Sie blieb stehen.
»Ach, Sie sind’s!«
Er dachte angestrengt nach, woher er sie kannte.
»Sie trainieren wohl auch.« Sie warf einen Blick auf das Fahrrad. »Haben Sie etwa einen Platten?«
Ihre Stimme war ihm vertraut. Er musste schon mit ihr telefoniert haben.
»Sieht ganz so aus«, antwortete er.
»Tja, da kann ich Ihnen leider nicht helfen«, sagte sie bedauernd.
»Schon klar. Warum sollten Sie auch mit Fahrradflickzeug durch die Gegend laufen?«
Sie lachte.
»Versuchen Sie’s doch mal beim Ullevålseter, vielleicht haben die welches.«
»Ja, vielleicht …«
»Ich wollte Sie übrigens anrufen«, meinte sie. »Was für ein Zufall, dass wir uns
Weitere Kostenlose Bücher