Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
zwanzig Jahren nicht gesehen.«
Sie schwieg, doch ihm entging nicht, wie sie ihn ansah.
»Ich bin wohl immer davon ausgegangen, dass er tot ist. Das war er ja auch … in gewisser Weise. Vielleicht war er es, den Frau Sundwall auf der Straße gesehen hat.«
»Sie können hier anhalten«, sagte Miriam. »Da oben wohne ich.«
Sie zeigte auf eines der alten Mietshäuser. »Vierter Stock. Die Dachwohnung.«
Er schaltete in den Leerlauf und zog die Handbremse.
»Vielleicht …«, begann sie. Ihre braunen Pupillen hatten grüne Einsprengsel. »Wollen Sie auf einen Kaffee mit raufkommen?«
Er hätte sie gerne in ihre Wohnung begleitet. Die Ruhe gespürt, die sie ausstrahlte. Ihr irgendetwas erzählt. Manche Menschen hören zu, dachte er, andere warten darauf zu reden. Sie ist jemand, der zuhört.
»Ich wünschte, ich könnte«, antwortete er.
Ihr Blick öffnete sich.
»Entschuldigung, ich wollte nicht …«
Er legte ihr die Hand auf den Arm. Wollte nichts mehr erklären. Kein Wort über Marlens Reitstunde oder dass er versprochen hatte, das Wasser für den Reis aufzusetzen.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Miriam.« Er bemerkte, dass er sie das erste Mal beim Namen nannte. »Gerne ein anderes Mal. Falls Sie Ihre Einladung nicht zurückziehen.«
Sie stieg aus und bedachte ihn mit einem flüchtigen Lächeln.
»Unter keinen Umständen«, sagte sie und warf die Tür zu.
9
Donnerstag, 27. September
A m Donnerstagnachmittag war Axel Glennes Praxis geschlossen. Wenn der letzte Patient um Viertel vor eins aus der Tür war, zog er in der Garderobe seine Trainingskleidung an und holte sein Trekkingrad, das in einem Kellerabteil stand. Es war blitzblank, und er hatte die Kette nach der letzten Tour geölt. Normalerweise fuhr er zu einem nahegelegenen See, dem Sognsvann, und von dort aus einfach querfeldein, doch an diesem Tag nahm er sein Fahrrad mit in die U-Bahn Richtung Frognerseteren.
Es hatte sich bewölkt, als er die Nordmarkskapelle erreichte. Ein älteres Ehepaar saß mit Thermoskanne und Lunchpaketen auf einer Bank. Beide trugen Anoraks, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten, der Mann hatte eine Skimütze mit Sonnenschutz auf dem Kopf. Als Axel sie grüßte, löste er eine Kaskade von Kommentaren aus: über das Wetter, die Stille im Wald, über die Gefahr, sich eine Erkältung zuzuziehen … Kaffee und Schokolade lehnte er dankend ab, blieb jedoch ein Weilchen stehen und ließ sich auf ein kurzes Gespräch ein. Die beiden gaben ihm das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Der Mann stellte die Thermoskanne ab und legte seine Hand auf die seiner Frau. Sie hatte klare, graue Augen und gluckste wie ein kleiner Bach, wenn sie lachte. Bie und ich in dreißig Jahren, versuchte er sich vorzustellen, aber es gelang ihm nicht.
Er sprang auf sein Fahrrad und spähte in nördliche Richtung. Am Himmel ballten sich die Wolken zusammen. Eigentlich hatte er nach Kikut fahren wollen, hatte jedoch keine geeignete Regenkleidung dabei. Ein anderer Fahrradfahrer kam den Hügel hinauf. Er trug eine Sonnenbrille und nickte Axel zu, während er an ihm vorbeischoss. Er war sicher zehn Jahre jünger als er, trug glänzende Fahrradshorts und ein hautenges Trikot. Für einen Augenblick war Axel versucht, ihm hinterherzujagen, um sich mit ihm zu messen, ließ es aber bleiben.
Am Blankvann, einem kleinen Waldsee, hatte er eine Eingebung. Er schob das Fahrrad ein Stück von der Straße weg, schloss es ab und begann einen schmalen Waldweg entlangzulaufen. Nur so schnell, dass er die Atmosphäre des Waldes noch bewusst aufnehmen konnte.
»Hörst du Skamandros singen?«, fragte Marlen immer, wenn sie im Wald an einem Bach vorbeikamen. Er war es gewesen, der ihr von dem griechischen Flussgott erzählt hatte, und Marlen behielt alles, was man ihr erzählte. An einem Weiher blieb er stehen. An einem Sommertag vor vielen Jahren hatte er Bie diesen Ort gezeigt. Das war vor Marlens Geburt gewesen. Sie hatten gebadet. Danach hatte er sich mit ihr ins Heidekraut gelegt. Sie hatte sich anfangs über die stechenden Zweige beschwert, doch er ließ sie diesen Gedanken schnell vergessen. Später hatte sie ihn Pan genannt und sich beklagt, wie gefährlich es sei, mit ihm in den Wald zu gehen. Marlens Geburt hatte kein volles Jahr auf sich warten lassen, und Bie behauptete seither, sie sei im Heidekraut gezeugt worden.
Er zog seine Trainingskleidung aus und sprang in den Weiher. Redete sich ein, das Wasser sei, gemessen an
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