Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
weniger vertretbar gewesen wäre. Dafür hatte er ihr eine Schildkröte gekauft. Schildkröten haaren nicht, müssen nicht ständig Gassi gehen, sind anspruchslose Esser, brauchen weder Impfungen noch die Antibabypille, pinkeln nicht auf den Teppich und akzeptieren die Hausordnung ohne Wenn und Aber. Marlen erklärte sie sogleich zu ihrer besten Freundin. Nach ein paar Probetaufen gab sie ihr den Namen Kassiopeia, nach einer Königin aus einem der Bücher, die ihr Vater ihr vorgelesen hatte. Somit bekam das Tier sogar ein eigenes Sternbild am Nachthimmel. Marlen hatte verfügt, dass alle Geburtstagsgäste als Tier verkleidet erscheinen sollten. Sie selbst ging als Kassiopeias große Schwester, weshalb Axel eine braune Plastikwanne auf ihrem Rücken befestigt und ihre langen Haare unter einer Strickmütze verborgen hatte. Jetzt lag sie unter dem Tisch, gab Schildkrötenlaute von sich und wartete auf die ersten Gäste.
Während die Pizza im Ofen war, schickte Axel die zwölf kleinen Mädchen in ihren Tierkostümen in den Partykeller, wo sie zu einer blinkenden Lichtorgel tanzen konnten. Er holte sein Handy, um nachzuschauen, ob Bie sich verspäten würde. Er hatte eine SMS erhalten. Sie war von Miriam. Er blieb im Flur stehen und fragte sich kurz, ob er sie überhaupt lesen sollte. Es war Donnerstag. Drei Tage waren vergangen, seit er bei ihr in der Wohnung gewesen war. Er hatte sie geküsst. Für den Rest des Tages war er den Gedanken an sie nicht mehr losgeworden. Er hörte ihre Stimme, nahm ihren Duft wahr. Als sie am nächsten Tag nicht in die Praxis kam, war er ständig versucht gewesen, sie anzurufen oder ihr eine SMS zu schicken. Doch er zwang sich dazu, nichts zu unternehmen, und ganz allmählich spürte er, wie er sich aus ihrem Bann befreite. An diesem Tag hatte er fast noch gar nicht an sie gedacht. Er hatte die Kontrolle verloren und sie sich zurückerobert … Sie schrieb: »Bin wieder gesund. Bis Montag. Miriam.« Daneben ein Smiley. Er wusste nichts von ihr und wollte auch nichts wissen. Hatte stets vermieden, ihr Fragen zu stellen, die sie dazu verleiten konnten, über sich selbst zu reden. Mit wem sie Umgang hatte. Woher sie kam. Familie, Freunde, Ex-Partner. Er hatte alles zu verlieren.
Das Klingeln des Backofens signalisierte ihm, dass die Pizza fertig war. Er hatte sich seinen Phantasien hingegeben. Fast hätte er es selbst nicht bemerkt. Erst jetzt begriff er, dass er sie in Gedanken bereits zu einer Person machte, die sie ganz bestimmt nicht war. Hatte er sie aus diesem Grund in ihre Dachgeschosswohnung begleitet? Konnte sich das deshalb jederzeit wiederholen? Er wusste, dass es geschehen würde. Danach würde er sie gehen lassen.
Axel hatte im Lauf der Jahre die meisten Geburtstage seiner Söhne organisiert. Damit verglichen waren die Mädchengeburtstage die reinste Erholung. Niemand warf Pizzastücke durch die Gegend. Niemand spritzte Ketchup über den Tisch. Niemand steckte seinem Nebenmann einen Strohhalm ins Ohr, um Limonade hineinzublasen. Sie saßen da wie eine Schar rosa Kaninchen, die sich willig ihre Gläser auffüllen ließen. Genau genommen gab es auch ein paar Katzen, zwei Ponys, einen Marienkäfer sowie einen melancholischen Esel. Natasja, Marlens beste Freundin, war offenbar als Löwe erschienen. Ihre Kringellocken waren zu einer mächtigen Mähne frisiert, und jede Frage wurde mit bedrohlichem Knurren beantwortet. Als sie jedoch sah, dass Axel vor Angst schlotterte, musste sie so lachen, dass ihre großen Augen verschwanden. Sie versicherte, dass sie ihm nichts tun würde, wenn er sie nur ausreichend mit Pizza versorgte.
»Mein Opa ist fast von den Deutschen ermordet worden!«, krähte Marlen. »Stimmt’s, Papa?«
»Stimmt.«
Marlen nahm Kassiopeia auf ihren Schoß und küsste sie auf den Panzer.
»Erzähl uns davon, wie Opa nach Schweden flüchten musste!«, bat sie.
Axel lehnte ab, wollte Oberst Glenne nicht in diese Geburtstagsparty mit hineinziehen. Er hatte kleine Tüten mit Süßigkeiten im Haus versteckt und Seeräuberkarten gezeichnet, die auf geheimnisvolle Weise darüber Auskunft gaben, wo sich diese Schätze befanden. Doch Marlen gab nicht auf.
»Dann wollen wir die Geschichte von Castor und Pollux hören!«, verlangte sie. »Wie der eine von ihnen ins Totenreich hinabgestiegen ist, um seinen Bruder zu besuchen.«
Auch die anderen Tiere stimmten unisono in diese Forderung ein. Axel begriff, dass es keinen Ausweg mehr gab, und begann zu erzählen. Schon von
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