Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
klein auf hatte er gern Geschichten erzählt. Und manchmal, wenn es ihm gelang, seine Schilderungen besonders plastisch auszuschmücken, gewann er dadurch die Aufmerksamkeit seiner Mutter. Dann schaute sie ihn mit großen Augen an und war mucksmäuschenstill, bis er fertig war. Mitunter schaffte er es sogar, sie zu erschrecken, was er als speziellen Erfolg verbuchte. Wenn er von Frankenstein, Vampiren und Werwölfen erzählte, bekam sie es wirklich mit der Angst. Sie streckte ihm abwehrend ihre Hände entgegen, als wollte sie nichts mehr hören, doch genau das Gegenteil war der Fall. Und wenn er das Bild von Graf Dracula beschwor, der sich in das Zimmer der fast entkleideten Frau schleicht – ein schattenloses Wesen, getrieben von seiner unstillbaren Gier nach Blut –, dann schlug er seine Mutter vollkommen in seinen Bann. Je ängstlicher sie wurde, desto näher war sie ihm.
Natürlich wollte er die kleinen Mädchen in ihren Tierkostümen mit der Geschichte von den Zwillingen nicht erschrecken, trotzdem flocht er die eine oder andere dramatische Begebenheit ein, die ihm auf die Schnelle einfiel. Atemlos vor Spannung saßen die Mädchen auf ihren Plätzen. Der Kleinen in dem Eselskostüm – die einzige von Marlens Freundinnen, an deren Namen er sich nicht erinnerte – hatte man schwarze Falten auf Stirn und Wangen gemalt, so dass sie aussah wie eine alte Dame. Etwas in ihren weit geöffneten Augen erinnerte ihn an die Tochter seiner Patientin, die er vor wenigen Tagen besucht hatte. Das bedrückende Gefühl, in ihr Heim eingedrungen zu sein, um ihnen eine Todesnachricht zu überbringen, ergriff erneut von ihm Besitz. Und gleich danach der Gedanke an Miriam. Er musste sich bei ihr melden. Sie anrufen oder zu Hause aufsuchen. Er musste mit ihr reden.
»Ihr seht Castor und Pollux, wenn ihr in den Sternenhimmel schaut«, sagte er abschließend. »Ganz in der Nähe der äthiopischen Königin Kassiopeia.«
»Wusstet ihr, dass Kassiopeia eine Königin ist?«, rief Marlen. »Lasst uns rausgehen und gucken, ob wir sie finden.«
Sie lief aus dem Wohnzimmer und riss die Terrassentür auf, mit den anderen Tieren im Schlepptau. Axel folgte ihnen. Am frühen Abend hatte es aufgeklart, so dass der Himmel weitgehend wolkenlos war. Er zeigte ihnen die Zwillinge und Kassiopeia.
»Aber in unmittelbarer Nähe befindet sich ein Stern, den ihr niemals ansehen dürft!«
Er hielt inne. Alle Mädchen drehten sich zu ihm um.
»Was für einer?«, fragte Natasja.
»Er befindet sich im Sternbild Perseus und heißt Algol«, antwortete er. »Es waren die Araber, die ihn so genannt haben. Algol bedeutet Kopf des Dämons.«
Alle starrten schweigend in die Dunkelheit.
»Mal leuchtet Algol hell und klar, mal ist er kaum zu erkennen. Er verändert sich ständig. Und eigentlich …«, Axel senkte die Stimme, »… ist es das todbringende Auge der Medusa, das wir dort oben sehen. Es zwinkert uns zu. Aber das führt jetzt zu weit.«
Protestgeschrei brach über ihn herein, und Marlen drohte, sie würden ihn verprügeln, wenn er nicht weitererzählte.
»Also gut«, lenkte er seufzend ein. »Wenn ihr darauf besteht!«
Er erzählte ihnen von Perseus, dem Sohn des Zeus, der in das Reich der Gorgonen geschickt worden war, um der entsetzlichen Medusa den Kopf abzuschlagen. Ganz genau beschrieb er das Ungeheuer, die tödlichen Schlangenhaare, den giftigen Atem. Und mit kaum hörbarer Stimme fügte er hinzu, dass ihre Augen so hässlich waren, dass jeder sofort zu Stein erstarrte, der sie ansah. Ein Schaudern ging durch die Schar der verkleideten Mädchen, und der kleine melancholische Esel, der ihn an die Tochter von Cecilie Davidsen erinnerte, biss sich auf die Lippen und schien mit den Tränen zu kämpfen. Glücklicherweise konnte Axel berichten, dass es Perseus mit Hilfe eines Spiegels gelungen war, dem Ungeheuer das Haupt abzuschlagen und in einen Sack zu stopfen. Die Mädchen atmeten erleichtert auf.
»Damit ist die Geschichte zwar immer noch nicht zu Ende«, verriet Axel. »Aber den Rest erspare ich euch.«
Erneute Proteste, und widerstrebend erzählte er von Perseus’ Triumphen.
»Den Sack mit dem Medusenhaupt führte er stets mit sich, und wann immer er einem Feind begegnete, öffnete er ihn. Das war eine grausame Waffe, denn jeder, der dem Blick der Medusa begegnete, wurde selbst nach ihrem Tod zu Stein. Und so ist es bis auf den heutigen Tag – niemand, der ihr ins Auge blickt, kommt mit dem Leben davon.«
Die Mädchen
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